englischer Klassiker

It is so with us all.
Our words are giants when they do us an injury,
and dwarfs when they do us a service. *
*So ergeht es uns allen. Worte sind Riesen, wenn sie uns verletzen, und Zwerge wenn sie uns dienlich sind.
Die Frau in WEiß
Dieser mehrfach verfilmte englische Klassiker ist Hochspannung pur! Und zwar auf sämtlichen 591 Seiten. Kein noch so hochkarätiger Thriller hat mich bisher derart gepackt wie dieser Roman. Stellenweise musste ich sogar aufhören zu lesen, weil ich die Spannung kaum noch ertrug. Er zählt zum allerersten "Mystery Novel", obwohl er auch als hochspannender Liebesroman durchgehen könnte.
Dieses Werk hatte mich - ebenso wie Jane Eyre von Charlotte Bronte - bereits in jungen Jahren stark beeindruckt. Und entsprechend - das wird mir erst jetzt beim neuerlichen Lesen bewusst - in meinem Schreiben beeinflusst; natürlich gefiltert durch Hunderte anderer Werke, die ich im Laufe meines Lebens, gelesen habe.
Die "Frau in Weiß" gehört zu den Romanen, die über Jahrzehnte in mit weiterexistiert haben. Nicht, was die Handlung betrifft, sondern die Charakterisiserung der Romanfiguren und die spannungsgeladene Atmosphäre des Buches.
Und so harmlos beginnt es:
Der mittellose Londoner Zeichenlehrer Walter Hartright erhält einen Auftrag in Limmeridge House, in Cumberland (Nordosten Englands). Dort soll er zwei junge Frauen, die mit ihrem hypochondrischen Onkel als einziges noch lebendes Familienmitglied zusamenleben, in der Kunst des Zeichnens und Aquarellmalens unterrichten.
Am letzten Abend bei seiner Familie in Hampstead begegnet Hartright auf seinem späten Heimweg einer total verschreckten und ganz in Weiß gekleideten Frau, die von ihm den Weg nach London gewiesen bekommen möchte. Hartright bietet ihr seine Begleitung auf nächtlicher Straße an und erfährt, dass sie einst eine glückliche Zeit als Kind in Cumberland verbracht hat und - wie es der Zufall will - die Familie seines zukünftigen Arbeitgebers gekannt hat. In höchsten Tönen schwärmt sie von der bereits verstorbenen Herrin des Hauses, die als einzige gut zu ihr gewesen sei.
Nachdem Hartright sich von seiner seltsamen Weggefährtin in London getrennt hat, bekommt er zufällig mit, dass nach ihr polizeilich gesucht wird, weil sie einer Irrenanstalt entflohen ist.
So weit der bereits spannende Auftakt.
Es folgt Hartrights Zeit in Limmeridge House, wo er sich - wie könnte es anders sein - in eine seiner beiden Schülerinnen verliebt. Laura Fairlie zeigt ihm ganz offenherzig, trotz ihres Standesunterschiedes, auch ihre Zuneigung.
Die Idylle endet abrupt, als sich eines Tages Besuch anmeldet. Es ist kein Geringerer als der Verlobte der jungen Miss Fairlie, der die rechtlichen Angelegenheiten für die baldige Vermählung zu regeln gedenkt. Es handelt sich um eine noch von ihrem verstorbenen Vater arrangierten Ehe, Gefühle sind dabei nicht im Spiel.
Und was hat das alles mit der Frau in Weiß zu tun? Diese schleicht die ganze Zeit durch den weitläufigen Park von Limmeridge House und versucht Kontakt zu Laura Fairlie aufzunehmen, was misslingt. Als Letzterer ein anonymer Brief zugestellt wird, der sie vor der bevorstehenden Heirat mit Sir Percival Glyde eindringlich warnt, sind sich alle sicher: er kann nur von der "Irren" stammen.
Hartright stellt zusammen mit Miss Fairlies Halbschwester Marian Halcombe Erkundigungen nach Ann Catherick an - so der Name der Frau in Weiß. Anderntags lauern sie ihr auf dem Friedhof auf, wo sie am Grab der verstorbenen Mrs. Fairlie kauert und in ehrsamer Andacht deren Stein säubert.
Als Hartright sie wegen des verstörenden Briefes zur Rede stellen will und dabei der Name Sir Percivals fällt, gerät Ann Catherick in Panik und läuft schreiend davon. Indizien legen den Verdacht nahe, das er derjenige war, der sie einst in die Irrenanstalt hat einweisen lassen. Doch die Hintergründe bleiben im Dunkeln.
Unglücklich und ohne das Rätsel lösen zu können muss Hartright seine geliebte Laura ziehen lassen.
Soweit Teil 1 des Romans. Darin sind bereits so viele Details enthalten, so viele Fäden ausgelegt, dass man sich kaum vorstellen kann, was noch alles kommen könnte. Und doch nimmt die spannungsgeladene Geschichte nach der Hochzeit von Sir Percival Glyde und Laura erst richtig Fahrt auf.
Auf dem Anwesen Sir Percivals namens Blackwater Park, in einem völlig anderen Teil Englands, taucht abermals die Frau in Weiß auf, um der frisch vermählten Lady Glyde das dunkle Geheimnis Sir Percivals zu verraten. Doch das Vorhaben wird jedes Mal vereitelt. Unterdessen wird das Benehmen des Hausherrn seiner Gattin gegenüber immer gröber und unberechenbarer.
Der Leser erfährt diesen Erzählstrang aus Marian Holcombes Tagebuch, die zu ihrer Halbschwester gezogen ist und mit dem Paar unter einem Dach lebt. Und noch jemand gehört mit zur Partie: der zwielichtige und äußerst charismatische Graf Fosco, der mit Lauras enterbter Tante verheiratet ist; ein exzentrischer italienischer Graf, der als langjähriger Freund Sir Percival in Erscheinung tritt und diesen unter seiner Fuchtel zu haben scheint.
Marian stolpert immer wieder über das merkwürdige Verhalten der beiden Männer und auch das der Gräfin, die von ihrem Mann offensichtlich als Spionin eingesetzt wird; sie schleicht den beiden Frauen auf Schritt und Tritt nach und fängt sogar deren Post ab. Offenbar soll sie erkunden, wie viel von Sir Percivals dunklem Geheimnis die beiden bereits in Erfahrung gebracht haben.
Bald findet Marian heraus, dass Sir Percival in finanzielle Nöte geraten ist und dringend an das Vermögen seiner Frau herankommen will. Doch diese weigert sich, ein entsprechendes Dokument zu unterschreiben. Ein von Marian belauschtes Gespräch zwischen Sir Percival und Graf Fosco bringt ihr die Gewissheit, dass Laura in allergrößter Gefahr schwebt.
Mehr will ich an dieser Stelle nicht verraten. Obwohl es im nächsten Teil - kaum vorstellbar! - noch spannender weitergeht.
Nur eines: die schrecklichen Verdachtsmomente, die einem beim Lesen kommen, erhärten sich immer mehr und werden zur grauenvollen Gewissheit. Täuschung, Komplotte, Mord ... Man sieht es kommen und ist dem unausweichlichen Schicksal der liebgewonnenen Romanfiguren ausgeliefert.
Ein dicht verwobenes Knäuel an Erzählfäden, das nach Lösung schreit.
Fabelhaft, großartig, genial! Mehr Spannung und Mystery geht nicht!
P.S.
Das Cover dieser englischen Ausgabe von ALMA Classics erinnert mich witzigerweise an Haferflocken von Kölln, wahrscheinlich wegen der Farben. Darin enthalten ist eine Menge Extramaterial über Wilkie Collins Leben und seine Werke. Ebenso Fotografien. Das ist in englischen Ausgaben häufiger der Fall und zeigt, wie sehr diese Autoren in Ehren gehalten werden. Ein Grund mehr, solche Klassiker im Original zu lesen.
Und wer von Ihnen hat sich beim Lesen dieses Mystery-Romans ebenfalls die Fingernägel abgeknabbert?