Kapitel 5: Nach dem Erntefest (Seite 133)
Judith konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, wann sie sich das letzte Mal so hoffnungslos verloren gefühlt hatte. Der heutige Tag hatte die Herzensbande der Kinder zu diesem fremden Volk endgültig verankert. Es war keineswegs nur eine hohle Zeremonie gewesen, nein, sie war aufs gründlichste gefüllt worden!
Nur wenige Stunden zuvor waren Nicholas und sie als Fremde gekommen. Nun war er als Freund – mehr noch: als ihresgleichen – gegangen, während sie eine Fremde geblieben war.
Es hatte nicht an den Leuten gelegen, keineswegs. Auch das Gespräch mit dem jungen Popen war angenehm verlaufen. Doch dann war sie im Laufe des Festes in einen tiefen Aufruhr versetzt worden, der sie am Ende an ihrem Verstand hatte zweifeln lassen. Sie hatte nunmehr die Gewissheit, sich in einer völlig unwirklichen Welt zu befinden.
Alles im Umfeld des Grafen, so wie er selbst, war von geradezu widersprüchlicher Perfektion. Er lebte in einem jahrhundertealten Gemäuer, das den luxuriösen Komfort der modernen Zeiten bot. Er gehörte dem Adelsstand an und las Schriften von Karl Marx. Er legte Wert auf Prunk und Eleganz und fand – wovon sie sich am heutigen Abend mehrfach hatte überzeugen können – Gefallen am Primitiven. Er ließ sein Volk ehrfurchtsvoll vor sich niederknien, um sich anschließend mit ihm tanzend und singend in den Armen zu liegen. Das ganze Wesen dieses Mannes war so voller Gegensätze, dass es Judith in absolute Verwirrung stürzte. In ein und demselben Moment vermochte er eine Wärme auszustrahlen, die einem das Herz weitete, und eine Kälte, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Umso schlimmer war es für sie mit anzusehen, wie sehr Nicholas dem Grafen zugetan, um nicht zu sagen, bereits verfallen war. Nie zuvor hatte sie ihren Neffen jemanden so viel offenkundige Bewunderung entgegenbringen sehen.
»Ich heiße Sie willkommen in unserer Welt, Miss Woodward«, hatte Graf da Laruc zu ihr gesagt. »Ihnen stehen sämtliche Türen offen. Doch eintreten müssen sie allein.«
Kapitel 8: Die Beichte (Seite 276 bis 278)
»Vergib mir Vater, denn ich habe gesündigt!«
»Sprich, mein Sohn!«
»Ich habe etwas ganz Schreckliches getan, părinte*, und ich schäme mich deswegen furchtbar! Ich glaube auch, dass Gott mich bereits bestraft hat, durch die Folgen meiner Missetat!«
»Nun, was hast du denn so Schlimmes getan?«
»Ich habe, aus Versehen quasi – oder nein, weil die Neugier mich trieb – einen Brief meiner Tante gelesen, den sie ihrer Freundin in Amerika geschrieben hatte. Der Brief lag zusammengefaltet auf ihrem Schreibsekretär. Es war ein ganz dicker Packen. Da bin ich neugierig geworden, was sie wohl so alles zu schreiben hätte an ihre Freundin. Ich weiß, dass man das nicht tun darf und es ein furchtbarer Vertrauensbruch war, und ich schäme mich entsetzlich deswegen. Aber es ist nun einmal passiert und durch nichts wieder gutzumachen.«
»Hast du deine Tante dafür schon um Verzeihung gebeten?«
»Das kann ich nicht, părinte! Sie darf niemals erfahren, dass ich ihren Brief heimlich gelesen habe, wirklich niemals!«
»Und warum nicht?«
»Nun, weil der Inhalt ... also der Inhalt, der war alles andere als für mich bestimmt, also ich meine, er war selbstverständlich nicht für mich bestimmt, denn sie hatte ihn ja an ihre Freundin geschrieben, aber für mich war er geradezu verboten!«
»Das versteht sich.«
»Ach, ich wünschte, ich hätte diesen Brief niemals gelesen! Was soll ich nur tun? Ich kann es doch nicht ungeschehen machen.«
»Das zwar nicht, aber du kannst das Gelesene möglichst schnell vergessen und geloben, so etwas nie wieder zu tun.«
»Genau das ist mein Problem, părinte, denn das kann ich leider nicht! Also, ich meine, ich kann selbstverständlich auf der Stelle geloben, so etwas nie wieder zu tun, was ich hiermit tue, aber das Gelesene wieder vergessen, ist unmöglich. Ich fürchte, es will mir nie wieder aus dem Kopf. Seitdem kann ich meiner Tante kaum noch in die Augen schauen - aber nicht wegen meiner Schandtat, sondern wegen ihrer Zeilen!«
»War der Inhalt des Briefes denn so verstörend für dich?«
»Er war mehr als das. Er macht mich unglücklich. Und wütend! Am liebsten würde ich meinem Vater alles erzählen, aber genau das werde ich niemals tun dürfen. Und ich kann auch nicht mit meiner Tante darüber reden, weil sie ja sonst wüsste, dass ich ihren Brief gelesen habe, und das darf niemals passieren. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Die Sache macht mich noch ganz krank.«
»Das Einzige, das du tun kannst, mein Sohn, ist, deiner Tante gegenüber geständig zu sein, Reue zu zeigen, sie um Vergebung zu bitten und dann in aller Ruhe mit ihr über das, was dich an ihren Zeilen so aufbringt, zu reden.«
»Das geht beim besten Willen nicht, părinte. Wenn ich das täte, würde sie uns auf der Stelle verlassen, da bin ich mir sicher.«
»Nun, dann musst du die dich quälenden Zeilen ertragen und sie, wie du selbst eingangs sagtest, als Strafe Gottes ansehen. Es wird dir eine Lehre sein, so etwas nie wieder zu tun. Ich sehe, dass du bereits zutiefst bereust und genug bestraft bist, darum erlasse ich dir weitere Bußen. Gehe hin in Frieden, mein Sohn.«
»Ich danke Euch, părinte, Ihr seid zu gütig. Aber ich will eine Strafe, ich will Buße tun! – Părintele Ştefan? Haltet Ihr meinen Vater für einen gottesfürchtigen Mann?«
»Wie kommst du dazu, mir solch eine Frage zu stellen?«
»Ich bitte um Verzeihung, părinte, aber wen sonst sollte ich fragen außer Euch? Eure Meinung dazu ist mir sehr wichtig.«
»Junger Herr, mein Amt gebietet mir, meine Schäfchen zu hüten, sie auf Gottes Weide zu führen und sie dort grasen zu lassen; nicht, zu bemessen, wie viel sie von Gottes Speise aufgenommen haben und sie danach zu beurteilen. Das steht nur Gott allein zu.«
»Heißt das – nein?«
»Das heißt gar nichts, junger Herr! Euer Vater zeigt sich meiner Kirche und den Bergklöstern dieser Region gegenüber mehr als großzügig. Und war es nicht er selbst, der Euch, ein verirrtes Lamm, zurück in die Arme der Kirche getrieben hat?«
»Heißt das – ja? Dann ist unser Haus also doch nicht gottlos, oder? Oder, părinte? Ich meine, wir haben sogar eine Schlosskapelle, auch wenn sie verschlossen ist. Warum ist sie denn verschlossen? Wisst Ihr das, părintele Ştefan?«
»Die Antwort auf die letzte Frage kann nur Euer Vater Euch geben, junger Herr. Die Antwort auf die davor, findest du in dir selbst, mein Sohn!«
*părinte/le = rumänische Anrede für den Popen
Kapitel 11: Die Gemäldeausstellung (Seite 371 ff)
Nicht nur die gehobene Hermannstädter Gesellschaft war zugegen, auch die einfachen Bürger strömten an diesem Sonntagnachmittag in die Gemäldeausstellung, die mit Leihgaben aus Privatsammlungen ein mehr oder weniger kunstverständiges Publikum anlockte.
Der ungewöhnliche Zulauf wunderte Judith, zumal nur wenige Besucher interessiert vor den Gemälden stehen blieben. Die meisten strebten dem Saal zu, der den Mittelpunkt der gestern eröffneten Kunstausstellung bildete.
»Es tut mir leid, meine Herrschaften«, hörte sie den Saalwärter verkünden, »wegen des zu hohen Andranges ist dieser Saal vorübergehend gesperrt! Ich bitte Sie um einen Augenblick Geduld!«
Ein enttäuschtes Murren ging durch die Menge. Sie hatte den Hauptanziehungspunkt offenbar erreicht.
»Hat doch keinen Zweck, wenn sich einem nur Rückenansichten bieten«, erhob ein älterer Herr beschwichtigend das Wort, woraufhin ihm etliche Köpfe zustimmend zunickten, während andere über seine Zweideutigkeit amüsiert das Gesicht verzogen.
»Ein bisschen zügiger dürfte es aber dennoch gehen«, befand eine vornehm aussehende Dame und fächelte sich demonstrativ Luft zu. »Schließlich soll es Unglück bringen, zu lange hinzusehen!«
Hierauf erntete sie sowohl aufgeschreckte Zustimmung als auch spöttische Kommentare.
»Pah, alles nur Aberglaube, ist einfach nicht auszurotten hierzulande«, ertönte eine ungehobelte Stimme von weiter hinten.
»Das wissen wir erst hinterher«, konterte ein seriös wirkender Herr neben Judith.
Bevor sie sich über all diese Bemerkungen verwundern konnte, wurde der nächste Schwung Besucher eingelassen, sodass es wieder ein paar Schritte vorwärtsging. Judith kam unmittelbar vor dem Eingang zu stehen. Als sich die Saaltüren das nächste Mal öffneten, schob sie sich als eine der Ersten in den Raum. Dort endlich entdeckte sie ihren Neffen, der reglos vor einem alten Porträtgemälde stand. Es beruhigte sie, dass der Saal keineswegs die von ihr befürchteten anstößigen Malereien enthielt, sondern lediglich einige alte Schinken: das übliche Schlachtengetümmel, ruhmreiche Sieger auf ihren Rössern und düster dreinblickende Kriegsherren in schwerer Montur.
Judith versuchte gerade, sich bei Nicolae bemerkbar zu machen, als sie von dem Saaldiener angesprochen wurde.
»Ich bitte um Entschuldigung, gnädige Frau! Ist das Ihr Sohn, der dort schon so lange vor dem Gemälde steht?«
»Er ist mein Neffe. Ich war bereits auf der Suche nach ihm«, gab sie entschuldigend zur Antwort. »Es tut mir leid, falls er die anderen Besucher in ihrer freien Sicht behindert haben sollte.«
»Das hat er keineswegs, gute Frau, er ist ja nur eine halbe Portion, über die man bequem hinwegsehen kann. Dennoch sollte er nicht zu lange auf das Porträt dort starren. – Man sagt«, fügte er hinter vorgehaltener Hand hinzu, »es brächte Unglück, in seine Augen zu schauen. Der böse Blick, verstehen Sie?«
Judith wusste nicht, wie sie auf das Vernommene reagieren sollte. Sie dankte und bahnte sich ihren Weg zurück zu ihrem Neffen, der inzwischen von den nachströmenden Besuchern umzingelt worden war.
Ein teils erbostes, teils erschrockenes Raunen füllte den Raum. Neugierig, was die allgemeine Erregung verursacht haben mochte und ihren Neffen so sehr in seinen Bann schlug, drängelte sie sich durch die Menge.
»Nicolae!«, rief sie ihm zu, als sie ihn drei Reihen vor sich ausmachte, aber er reagierte nicht. Zwei weitere Male musste sie ihm zurufen und erntete bereits tadelnde Blicke, bevor es ihr endlich gelang, sich zu ihm durchzuzwängen.
Plötzlich, wie auf ein geheimes Zeichen, löste sich das Gedränge auf und die Besucher verließen fluchtartig den Saal durch die Tür auf der anderen Seite. Nicolae hingegen stand wie festgewachsen. Bevor der Wärter den nächsten Besucherstrom einließ, packte Judith ihn bei den Schultern und drehte ihn zu sich um. »Nicolae, wieso hörst du nicht? Komm, wir müssen den Saal freigeben!« Erst jetzt gewahrte sie seine Pupillen, die zu Stecknadelkopfgröße geschrumpft waren. Sein Blick war nach innen gerichtet. Wie eine leblose Puppe ließ er sich von ihr an seiner eiskalten Hand aus dem Raum ziehen.
[…]
Er ließ sich der Länge nach aufs Bett fallen und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Immer wieder musste er an diese Augen denken, diese todtraurigen Augen, von denen die Umstehenden allesamt behauptet hatten, sie wirkten kalt und grausam. Die Gesichtszüge seien schockierend brutal, hatten sie einstimmig gemeint und sich angewidert abgewandt.
Hatten sie tatsächlich dasselbe Gemälde betrachtet? Verwirrt hatte er seinen Blick von den Augen des Porträtierten gelöst und ihn über das restliche Gesicht gleiten lassen. Er hatte nichts von alledem gesehen! Nichts außer unerträgliches Leid, verborgene Sinnlichkeit und eine gewisse Strenge, die Nicolae eher wie Entschlossenheit, ja, fast schon Trotz vorgekommen war. Bei all den einstimmigen Kommentaren ringsumher hatte er jedoch an seinem Scharfblick zu zweifeln begonnen, denn die erwachsenen Ausstellungsbesucher schienen den Abgebildeten gut zu kennen und ihn, ihrem Verhalten nach zu urteilen, auf unbegreifliche Weise zu fürchten und zu verabscheuen. Nur er hatte auf einen Unbekannten geschaut, obwohl er ihm seltsam vertraut vorgekommen war. Selbst seine Stimme meinte er schon einmal vernommen zu haben.
Er hatte dem Mann auf dem Bild zuhören wollen, der ihm so vieles zu sagen wünschte, doch die Leute waren zu laut gewesen. Nur mit sehr viel Anstrengung hatte er dessen leise Stimme aus dem aufgebrachten Getöse der Umstehenden vernommen. Achte nicht auf sie, Nicolae, hatte sie ihm zugeflüstert. Lass dich nicht verwirren. Sieh in die Tiefe und glaube an das, was du dort siehst! Nicolaes Herz hatte wie wild angefangen zu klopfen, so nah und vertraut war ihm die Stimme erschienen und doch so fern und fremd. Fast hatte er den Eindruck gehabt, wieder in einen seiner früheren Träume geraten zu sein, aber die Stimme, die ihn geradewegs aus dem Gemälde angesprochen hatte und für andere unhörbar zu sein schien, war zu real gewesen.
Da hatte er begriffen, dass er nicht nur in die Tiefe zu sehen, sondern auch zu horchen vermochte. Er sah und hörte Dinge, an die er sich nur wieder trauen musste zu glauben. Zu viele Lügen
auf dieser Welt, hatte er noch mühsam herausgehört, bevor er mit einem Ruck zurück an die Oberfläche gerissen worden war. Das Gesicht seiner Tante war vor ihm aufgetaucht. Sie hatte ihn von
ihm fortgeführt. Er war nur zu erschöpft gewesen, um zu protestieren.