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David Guterson: Schnee, der auf Zedern fällt

Ein Gerichtsroman

Was ich gerade lese: "Schnee, der auf Zedern fällt" von David Guterson

Schnee, der auf Zedern fällt

Hinter diesem verträumt-romantischen Titel verbirgt sich ein brisanter Gerichtsroman.

Ein Gerichtsroman? Also ein Kriminalroman. Oder?

Nope! Denn dieses Buch ist weit mehr als das. Hier steht nicht die Tat und deren Auflösung im Vordergrund, sondern:

  • der Handlungsort: San Piedro, eine kleine Insel vor Seattle nordwestlich der USA, mit ihrer Vegetation und ihrem Klima
  • die Handlungszeit: 1954 - wichtig!
  • die Geschichte der Insel und ihrer Bewohner - noch wichtiger!
  • die Romanfiguren, sprich: Inselbewohner, mit ihren unterschiedlichen Herkünften und Eigenheiten - extrem wichtig!

Der Kriminalfall ist nur der Ausgangspunkt, der in einem verzwickten Prozess unter höchst widrigen Umständen mündet.

Zur Handlung

Der erfahrene Lachsfischer Carl Heine, deutscher Herkunft, wird tot in seinem Netz geborgen - mit einer Wunde am Kopf.

In Verdacht gerät sofort sein Kollege Kabuo Miyamoto, der japanischer Abstammung ist. Er ist nicht nur der Letzte, der Carl lebend gesehen hat, er hat obendrein diesen Umstand der Polizei verschwiegen.

Mehrere Indizien weisen darauf hin, dass er der Täter ist. Vor allem beider gemeinsame Vorgeschichte, die in den Augen der Geschworenen ein eindeutiges Motiv liefert.

 

Es geht um ein Stück Land, das Kabuo von Carl zurückerhalten möchte. Seine Vorfahren, sowie fast alle Inselbewohnter japanischer Abstammung, waren Erdbeerbauern. Nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour 1941 wurden sie von der Insel vertrieben und irgendwo in der Wüste einkaserniert. Als Kabuos Familie nach dem Krieg auf die Insel zurückkehrt, steht sie vor dem Nichts. Die letzte Rate für das Stück Land, das sie von Carls Familie zu kaufen gedachten, war noch nicht bezahlt. Damit war der Deal in den Augen von Carls hartherzigen Mutter geplatzt.

 

Doch die beiden Männer verbindet mehr als die Geschäftsbeziehung wegen des Stück Landes und ihres gemeinsamen Broterwerbs, der Lachsfischerei. Sie waren in ihrer Kindheit und Jugend die allerbesten Freunde. 

Schon zu der Zeit hat Carls Mutter den Umgang ihres Sohnes mit einem "Japs" nicht gut geheißen. Doch nach Pearl Harbor sind auch in den Augen aller anderen die japanischen US-Amerikaner die erklärten Feinde - obwohl diese im Zweiten Weltkrieg an der Seite der USA gegen ihr ursprüngliches Volk gekämpft haben. An dem Feindbild haben auch die letzten 13 Jahre nichts ändern können.

 

Ja, es geht um Vorurteile. Aber um Vorurteile auf beiden Seiten! Kabuos Verhängnis ist, dass er während des gesamten Gerichtsprozesses mit undurchdringlicher Miene schweigt und keinerlei Emotionen zeigt - so wie es dem allgemeinen Bild von Japanern entspricht. Die Geschworenen und alle anderen, die dem Prozess beiwohnen, fühlen sich in ihrem Vorurteil bestätigt; Kabuo ebenfalls, dass nämlich aufgrund seiner Vorverurteilung der Prozess ihm keine faire Chance bietet. Als Kabuo auf Drängen seiner Ehefrau endlich seinen Stolz überwindet und seine Version der Geschichte erzählt, glaubt ihm niemand.

 

Nur eine Person stellt weiterhin Nachforschungen an: der Redakteur und Inhaber der Inselzeitung. Kabuos jetzige Ehefrau war einst seine erste große Liebe - und ist es noch! Der Gewissenskonflikt ist vorprogrammiert, gleich auf welches Beweismaterial er stoßen sollte.

Rezeption

Während des gesamten Prozesses herrscht ein gewaltiger Schneesturm und bringt das Alltagsleben auf der Insel zum Erliegen. Wegen der Stromausfälle haben die Bewohner mit der Kälte zu kämpfen, die Verbindung zum Festland ist unterbrochen, die Vorräte werden knapp. Eine Extremsituation, in der die Inselbewohner zusammenhalten müssen.

 

Dadurch gelingt Guterson nicht nur der perfekte Wechsel von Vergangenheit und Gegenwart, sondern die Geschichte erhält damit eine fast greifbare atmosphärische Dichte. Beim Lesen gefroren auch mir die Zehen, so meinte ich zumindest. Da es zu dem Zeitpunkt gerade auch bei uns schneite, konnte ich mit eigenen Augen verfolgen, wie Schnee auf die Lebensbäume (gehören zur Familie der Zypressengewächse!) in unserem Garten fiel. Passender ging es nicht!

 

Leise und unaufgeregt erzählt der Autor diese komplexe und vielschichtige Geschichte von San Piedro und ihren eigensinnigen Bewohnern, fügt elegant die grausame Historie und eine sanfte Liebesgeschichte ein - ohne Schnörkel und ohne Kirsch - realistisch, brutal und trotzdem irgendwie schön.

 

Tat ich mich bis Seite 76 noch etwas schwer damit, in die Geschichte einzutauchen, so wollte ich zum Ende hin nicht mehr daraus hervorkommen. Nach 500 Seiten hatte ich die Insel und ihre oft knurrigen Bewohner liebgewonnen. Und falls ich mal wieder nach Seattle kommen sollte, werde ich ganz bestimmt nach einer Fähre zu der Inselgruppe Ausschau halten.

Fazit

Kriminalromane finden sich nicht oft in meinem Bücherstapel. (Dieses Buch würde ich ohnehin nicht in das Genre einordnen.) Aber wenn sie so wunderbar umfassend - nämlich nicht nur rein handlungsorientiert! - geschrieben sind und dazu noch glaubhafte, komplexe und lebendige Charaktere enthalten, dann immer her damit!

 

Schon Kalman von Joachim B. Schmidt hatte mich letztes Jahr beeindruckt. Dort wurde ebenfalls eine Kriminalgeschichte mal völlig anders erzählt und viel über den Handlungsort Island vermittelt.

Das Buch habe ich darum unter die TOP FIVE: meine Lieblingsbücher 2024 gewählt.

 

Schnee, der auf Zedern fällt  hat gute Chancen in meine TOP FIVE 2025 zu kommen. Aber das Jahr ist ja noch jung!