TOP FIVE: meine fünf Lieblingsbücher 2024
Wie bereits in meinem Jahresrückblick 2024 erwähnt, küre ich jedes Jahr fünf Bücher, die mich am meisten beeindruckt oder berührt haben. Dieses Mal fiel mir die Wahl unfassbar schwer. Bis zuletzt habe ich einige Titel immer wieder gegen andere ausgetauscht.
Nun spricht ja nichts dagegen, aus den TOP FIVE eine TOP SEVEN zu machen. ABER das ist mit Vorsicht zu genießen, denn ich kenne mich. Ende dieses Jahres wäre es ebenso schwierig, sieben Bücher zu benennen, und zudem die Versuchung groß, die Anzahl nochmals zu erweitern.
Nein, nein, nein - das will ich gar nicht erst einreißen lassen. Es bleibt bei den TOP FIVE. Schließlich sind auch die schon ein Zugeständnis gewesen. Denn sind es nicht üblicherweise nur DREI Bücher, die man auf die viel zitierte "einsame Insel" mitnehmen darf?
Hier sind sie also: meine TOP FIVE 2024 ...
Joachim B. Schmidt: Kalmann
Ein Island-Roman, erzählt aus der Sicht des „Dorftrottels“ Kalmann.
Absolut großartig!!! Spannend und skurril, einfühlsam und liebenswert.
Kalmann, Jäger und selbsternannter „Sheriff von Raufarhöfn“ ist berühmt für seinen „Gammelhai“ – eine rare isländische Spezialität. Eines Tages findet er eine Blutlache im Schnee, der „König“ (der Fischfangquoten) und Hotelbesitzer Robert McKenzie wird vermisst und zugleich ein Fass Drogen aus dem Wasser geborgen. Was haben diese Ereignisse miteinander zu tun? Stecken „die Litauer“ dahinter?
Nach und nach entwickelt sich ein spannender Handlungsstrang, erzählt aus der Sicht Kalmanns. Er folgt seiner eigenen, zwar „kindlichen“, aber absolut natürlichen Logik und beschreibt die Dorfmitglieder mit ihren Eigenheiten und Marotten auf einprägsame und amüsante Weise. Die Handlung wird zunehmend komplexer und spannender mit einem unerwarteten Ende.
Obwohl ich nicht sonderlich am Island-Hype interessiert bin, habe ich ein umfassendes Bild von dem Land bekommen, was Landschaft, Politik und Gesellschaft anbelangt, und zwar ganz nebenbei und unaufdringlich.
Vor allem aber hat mich die einfühlsame Beschreibung des Protagonisten begeistert, seine Denk- und Fühlweise, die glücklicherweise aus keiner Klischee-Kiste stammt: der Wechsel zwischen Erwachsenen- und Kind-Ich, seine Logik jenseits von Gesellschaftsnormen, seine genaue Beobachtungsgabe, sein ausgeprägter Spürsinn (Korrektomundo, muss man als Jäger auch haben – würde Kalmann jetzt erwidern), seine Liebe und Treue zum inzwischen im Heim lebenden dementen Großvater (auch wenn dessen Kopf ihn nicht mehr erkennt, sein Körper aber tut es!)
Es sind die vielen liebenswerten Einlassungen, die diesen Roman so lesenswert machen.
Roman, wohlgemerkt – von einem Krimi ist auf dem Cover und Klappentext nicht die Rede. Trotzdem scheinen einige Leser in ihrer Erwartungshaltung enttäuscht, weil dieses wunderbare Buch eben nicht ein typischer Krimi ist, sondern so viel mehr – und so viel anders. Eine Perle!
Philippe Claudel: Die grauen Seelen
Dieser Roman wurde zu Recht mit Preisen ausgezeichnet und auf der französischen Bestsellerliste geführt.
Die Thematik allerdings ist düster und beklemmend. Ein kleines Mädchen wird im Winter 1917 in einem Dorf am Rande der Kriegsfront tot aufgefunden.
Faszinierend, wie der Autor tief in die Charaktere seiner Figuren eindringt und sie schonungslos vor uns Lesern entblößt.
Zunächst beschreibt die Erzählstimme die Umstände recht sachlich, wirkt lediglich als stiller Beobachter. Erst spät erfährt der Leser, dass er zur Polizei gehört, die den Mordfall aufklären soll.
Von da ab führt er uns in die Welt der Komplotte, erzählt von Machtmissbrauch und Sadismus der Befehlshaber am Rande des Ersten Weltkrieges, der parallel stattfindet und das Dorf angeblich nur peripher kratzt. Doch die Karren voller verstümmelter und toter Soldaten, für die die Dorfstraße gesperrt wird, erzählen eine andere Geschichte. Die Haupthandlung wird unentwegt vom nahen Kanonendonner begleitet, der eine bedrohliche Atmosphäre schafft.
Immer größer wird der Knoten aus möglichen Tätern, Verdächtigen und Einzelschicksalen. Wenn man schon glaubt, mehr nicht verkraften zu können, setzt der Autor noch einen obendrauf mit dem tragischen Schicksal des Erzählers, der an seiner (Nicht)schuld zu zerbrechen droht.
Das Ende ist nicht für jeden erträglich, aber passt zu den Untiefen der menschlichen Seelen, die eben nicht einfach nur schwarz oder weiß sind, sondern grau.
Abgesehen von dieser atmosphärisch dichten Geschichte, hat mich der ungewöhnliche Aufbau und die Sprachkunst Claudels fasziniert. „Die grauen Seelen“ werden noch lange in mir nachwirken. Ein großes Dankeschön an den Autor für dieses exzellente Stück Literatur.
Günter Grass: Im Krebsgang
Dieses Buch hatte ich bereits in der Kategorie Was ich gerade lese kommentiert. Hier der Vollständigkeit halber nochmal:
Der Titel des Buches hätte auch lauten können:
Die Geschichte der Wilhelm Gustloff – von der Kiellegung bis zur Versenkung – oder: die politischen Verirrungen eines Jünglings aus bürgerlichen Kreisen.
Denn beides hat Grass hier aufs Raffinierteste verwoben!
Zunächst geht es um das KdF-Schiff Wilhelm Gustloff und um die Geschichte ihres Namensgebers.
Wilhelm Gustloff (Landesgruppenleiter der NSDAP-Auslands-organisation in der Schweiz) wurde 1936 in Davos von dem schwer erkrankten Juden David Frankfurter ermordet, der mit seiner Tat ein Zeichen setzen wollte. Daraufhin wurde das frisch vom Stapel gelaufene Kreuzfahrtschiff nach Wilhelm Gustloff benannt, diesem zu Ehren.
Sodann erfährt der Leser von der Torpedierung des Schiffes in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges durch ein sowjetisches U-Boot und den damit verbundenen Untergang von geschätzt 9000 Menschen (die genaue Zahl ist nicht bekannt), darunter Kinder und Mütter, Flüchtlinge aus Ostpreußen, aber auch verletzte Soldaten, denn die Wilhelm Gustloff diente im Krieg als Lazarett-Schiff.
Nur etwas über 1200 Menschen konnten gerettet werden, darunter der fiktive Ich-Erzähler des Romans. Vielmehr seine mit ihm hochschwangere Mutter, die wie durch ein Wunder überlebte und ihn in derselben Nacht am 30. Januar 1945 gebar. Ein Überlebender wider Willen - als den er sich selbst bezeichnet -, ein Vater ohne Vater, der nie Vater hätte werden dürfen.
Mit der tragischen Geschichte der Wilhelm Gustloff bewegt sich der Erzähler seitwärts wie ein Krebs auf den eigentlichen Erzählstrang zu. Es geht um seinen politisch fehlgeleiteten Sohn, der dem Einfluss seiner Großmutter unterliegt, einer immer noch glühenden Stalin-Verehrerin. Die Mutter des Kindes sieht sich als geschiedene alleinerziehende Lehrerin überfordert und hat ihren Sohn, der als Außenseiter kaum soziale Kontakte pflegt, zu ihrer Mutter geschickt. Die schenkt ihm einen PC. Das Internet ist fortan seine Welt und Spielwiese. Seine Leidenschaft: Die Wilhelm Gustloff!
Der Zufall will es, dass auch sein Vater sich als Journalist und „Überlebender“ für das Thema interessiert. Dieser stößt bei seinen Recherchen auf eine seltsame Website. In deren Chatroom werden höchst fragwürdige Dialoge zwischen einem Neo-Nazi und einem angeblichen Juden geführt – gerade so, als wären sie in die Rollen des Wilhelm Gustloff und seines Mörders geschlüpft. Aufgrund einiger Formulierungen kommt dem Ich-Erzähler eines Tages ein furchtbarer Verdacht.
Äußerst spannend und raffiniert auf typisch Grass'sche Art erzählt, mit unerwarteten Wendungen.
Vor allem aber hochaktuell – leider! Kaum zu glauben, dass Grass diese Novelle bereits 2002 veröffentlicht hat. Als wären keine 22 Jahre seitdem ins Land gegangen. Daher: Immer noch – oder gerade jetzt! – absolut lesenswert.
Andrei Makine: Das französische Testament
Ein unfassbar trauriges und doch so poetisches Buch.
Aljoscha verbringt jeden Sommer in einer sibirischen Kleinstadt am Rande der Steppe bei seiner französisch-stämmigen Großmutter. An den lauen Abenden auf dem Balkon lässt sie ihr Paris wieder aufleben, in dem sie um die Jahrhundertwende aufgewachsen ist.
Der Junge saugt jedes ihrer Worte auf; in ihm entsteht ein zauberhaftes Bild vom alten Paris – sein „Atlantis“. Unterstützt werden seine Vorstellungen durch diverse Zeitungsartikel, die er in einem Koffer unter dem Bett der Großmutter findet.
Und auch die Lebensgeschichte seiner Großmutter wird zunehmend bunter. Doch irgendein Geheimnis scheint sie zu umgeben, dem er auf die Spur kommen will.
Ist Aljoscha zunächst stolz auf seinen Strang französischen Blutes, muss er bald lernen, dass dieser fremde, imperialistische und staatsfeindliche Teil von ihm in einem guten Sowjet-Menschen nicht erwünscht ist. Die Mitschüler kapseln ihn als Sonderling ab. Wie jeder Heranwachsende will er aber dazugehören.
Auf seinem Weg zum Erwachsenen wirft er daher den Zauber seiner Kindheit ab und betrachtet auch seine Großmutter nunmehr mit skeptischen Augen. Wieso ist sie als Französin, die in Paris noch Familie hat, von ihren Reisen dorthin immer wieder in die Trostlosigkeit der sibirischen Steppe zurückgekehrt?
Als erwachsener Mann besucht Aljoscha Paris. Dort versucht er als Schriftsteller Fuß zu fassen. Mit der Zeit beginnt auch er den Pariser Zauber zu verstehen, trotz der Entbehrungen und ärmlichen Verhältnisse, in denen er dort lebt.
Ein Abriss europäischer Geschichte mit all ihren Gräueln der Revolutionen, zweier Weltkriege und der sowjetischen Diktatur.
Ein Buch über die Macht des Blutes und der Träume, wunderbar poetisch und zugleich schonungslos realistisch.
Meine Lieblingsstellen im Buch:
- Die Anekdote über den Tausendfüßler, der, nach seinen Tanzkünsten befragt, sofort über seine unzähligen Füße stolpert, obwohl er sie sonst unwillkürlich richtig setzt.
- Lieblingszitat 1: „Vielleicht verdanke ich es diesen Träumen, dass ich sowohl die materielle Not als auch die oft furchtbaren Demütigungen ertrug, in denen die ersten Schritte in der Welt der Bücher begleitet sind, wenn das Buch, das verletzlichste Organ unseres Seins, zur Handelsware wird. Eine Ware, die versteigert, an Marktständen feilgeboten und verramscht wird. Mein Traum war ein Gegengift - und die Tagebuchaufzeichnungen eine Zuflucht.“
- Lieblingszitat 2: „Frankreich ging für uns in seiner Literatur auf. Und wahre Literatur verstand sich auf den Zauber, uns mit einem Wort, einer Strophe oder einem Vers in einen unverfänglichen Augenblick der Schönheit zu versetzen.“
Janne Teller: Nichts - was im Leben wichtig ist
NEIN, dies ist kein Lebensratgeber - wie der Titel vermuten lässt. Sondern ein Jugendroman. Und ein Buch, das schockiert und Fragen aufwirft.
"Nichts - Was im Leben wichtig ist" wird auch als Unterrichtsstoff behandelt, was ich äußerst bedenklich finde. „Eine erschütternde Parabel über die Suche nach dem Sinn des Lebens“, heißt es im Klappentext. Das halte ich für eine absolute Untertreibung. Das Buch könnte locker ins Genre Horror eingeordnet werden.
Thema: Gruppenzwang. Wo sind die Grenzen? Wo hört der Spaß auf?
In einer dänischen Provinzstadt verlässt der 13-jährige Pierre Anthon eines Tages den Schulunterricht, weil er zu der Erkenntnis gekommen ist, dass nichts wirklich etwas bedeutet. Also kann er genauso gut seine Zeit im Pflaumenbaum im elterlichen Garten verbringen und die Dummköpfe von Schulkameraden von oben herab verhöhnen.
Die jedoch sind stinksauer – und wollen ihm das Gegenteil beweisen, indem sie in einem stillgelegten Sägewerk einen Turm von bedeutsamen Dingen errichten. Dazu muss jeder aus der Klasse etwas opfern, das ihm äußerst wichtig ist.
Zu dumm nur, dass dies nicht selbstbestimmt, sondern von den Klassenkameraden festgelegt wird, damit keiner schummeln und es wirklich etwas von allerhöchster Bedeutung ist.
Das Ganze fängt harmlos an: beispielsweise mit Boxhandschuhen, Dungeons & Dragons Büchern oder ein paar trendigen Sandalen. Doch plötzlich wird das Meerschweinchen einer Mitschülerin gefordert, dann vom Pfarrerssohn das Kruzifix aus der Kirche. Schon hier sind die ersten Grenzüberschreitungen zu verzeichnen. Aber es wird noch ärger kommen.
Die Sache wird makaber, als eine Mitschülerin auf dem Friedhof ihr totes Brüderchen ausgraben muss, um den Turm der Bedeutung mit dem Sarg samt Inhalt zu erhöhen. Und eskaliert als eine andere ihre Unschuld opfern soll. Im Gegenzug fordert sie den Zeigefinger ihres „Vergewaltigers“, der leidenschaftlich gerne Gitarre spielt.
Die Sache fliegt auf. Doch statt ausschließlich Empörung und Entsetzen hervorzurufen, schafft es der bizarre "Turm von Bedeutung" in die Medien und gelangt für kurze Zeit zu Weltruhm. Eine Kunstgalerie aus den USA will ihn sogar kaufen. Danach verpufft die allgemeine Aufmerksamkeit und die Jugendlichen werden sich dessen bewusst, dass sie vergebens ihre Opfer dargebracht haben. Denn Pierre Anthon ist alles andere als überzeugt, dass diese Dinge von wirklicher Bedeutung für seine Klassenkameraden waren, denn schließlich seien sie bereit gewesen, sie bei erster Gelegenheit zu verkaufen.
Eine ungebremste Wut aufeinander entsteht. Enttäuscht fallen sie übereinander her. Pierre Anthon jedoch sieht sich bestätigt. Und genau ihn wollten sie doch widerlegen! Der Schuss ging nach hinten los.
Junge Menschen in der Selbstfindung, die noch nicht gefestigt sind, mit solcher Lektüre zu konfrontieren ist m. E. mehr als fahrlässig, es ist kriminell.
Was ist die Message? Egal, was du tust, es ist nicht von Bedeutung und bleibt ohne Konsequenzen. Daher kannst du tun und lassen, was du willst. Es gibt keine Grenzen. Weder moralische noch humanistische?
Um es noch mal deutlich zu sagen: Da werden Tiere umgebracht, religiöse Symbole entehrt, eine 14-Jährige gegen ihren Willen entjungfert, sprich: vergewaltig, und einem jungen Mann der Finger abgehackt.
Wo sind die Grenzen? Auch die Grenzen der Literatur!
Trotzdem ließ mich dieses Buch so schnell nicht wieder los. Der Spannungsaufbau lässt einem die Haare zu Berge stehen. Man ahnt, dass es immer schlimmer kommen wird. In der Kategorie „Gruselschocker“ wäre es wunderbar aufgehoben. Unter Jugendbuch allerdings hat es meiner Meinung nach nichts verloren, auch wenn die Protagonisten Jugendliche sind.
Dieses Buch hat es in meine TOP FIVE geschafft wie der "Turm der Bedeutung" in die Medien: weil es etwas Sensationelles ist.
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