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Jojo Moyes: Ein ganzes halbes Jahr

Viel mehr als Ein Liebesroman

Was ich gerade lese: "Ein ganzes halbes Jahr" von Jojo Moyes

Ein ganzes halbes Jahr

Potzblitz! Das hätte ich nicht für möglich gehalten: ein Liebesroman, der mich begeistert!!! Bei dem ich nicht bereits auf Seite 7 genervt die Augen verdrehe und ihn auf Seite 21 endgültig weglege.

 

Wieso? Weil die Romanfiguren nicht aus der Klischee-Schublade stammen. Weil er keine Dialoge enthält, die man - da schon tausendfach gelesen - mitsprechen kann. Weil er keine Stereotypen bedient. Und vor allem weil er ohne den üblichen romantischen Kitsch auskommt.

Wie der Liebesroman zu mir fand

Aber zunächst einmal: Wie konnte es überhaupt passieren, dass ein Liebesroman in meine Hände gerät?

Nein, er wurde mir weder geschenkt noch stammt er aus der aufgelösten Bibliothek meiner Freundin.

Ich habe ihn tatsächlich - und das im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte! - aus einem öffentlichen Bücherschrank mitgenommen.

 

Klar, sagte mir der Titel etwas - das Buch wurde schließlich monatelang wie Sauerbier angepriesen; in jedem Buchblog, in jeder Buchhandlungsbroschüre, gefühlt überall begegnete einem das hübsche Cover.

Aber bei hübschen Covern ist ja bekanntlich Vorsicht geboten; das ist wie mit hübschen Weinetiketten - je verspielter, desto mehr Bonschiwasser statt Traubenelixier. Obendrein noch der orange "Spiegel-Bestseller"-Aufkleber, der - wie Sie wissen, wenn Sie meinen Blog verfolgen - mich eher abschreckt.

 

Wieso also habe ich meine Hand trotzdem nach dem Buch ausgestreckt?

 

Selbst den Klappentext fand ich nichtssagend - und im Nachhinein vorgreifend, denn dass die Erzählerin Louisa ihren Freund Patrick eigentlich nicht liebt, wie bereits im 2. Satz auf der Rückseite zu lesen ist, kommt im Buch erst im letzten Drittel heraus, auch wenn man es sich bereits denken kann.

 

Ob Sie es glauben oder nicht:

Mich hat der Titel gereizt! Ich finde ihn überaus gelungen. Und nachdem ich das Buch zu Ende gelesen hatte, erst recht.

Zum Inhalt

Louisa hat keine großen Ziele im Leben. Sie stammt aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, lebt in einer Kleinstadt und da die finanzielle Situation ihrer Familie prekär ist, wohnt sie mit 26 Jahren noch in ihrem Elternhaus. Ihr eintöniges, aber leidlich zufriedenes Leben ändert sich schlagartig, als das Café im Ort, in dem sie als Bedienung arbeitet, schließt.

 

Die junge Frau bringt keine großen Qualifikationen mit. Umso verwunderter ist sie, als ihr das Jobcenter eine Stelle als Pflegehilfe für einen im Rollstuhl sitzenden Mann anbietet.

 

Bei Louisa klingeln die Alarmglocken: einem Senioren den Hintern abwischen?

Als ihr versichert wird, dass dafür eine männliche Pflegekraft zuständig ist und sie eher als Gesellschafterin den gut bezahlten Dienst versehen soll, lässt sie sich widerwillig darauf ein.

 

Was sie nicht ahnen kann, ist, dass es sich keineswegs um einen alten Menschen handelt, sondern um einen von der Halswirbel abwärts gelähmten jungen Mann - einen sogenannten Tetraplegiker -, der weder Beine noch Arme bewegen kann. 

 

Zwei Welten treffen aufeinander. Will Traynor stammt aus wohlhabendem Hause und war bis zu seinem tragischen Unfall ein aufstrebender Geschäftsmann, erfolgsverwöhnt auf ganzer Linie und überaus sportlich obendrein. Verständlich, dass er mit seinem Schicksal hadert und von schlimmen Depressionen heimgesucht wird.

 

Doch so unleidlich wie er mit Louisa umspringt, ist es nicht verwunderlich, dass diese nach kurzer Zeit den Job wieder hinschmeißen will. Nur die drohende Arbeitslosigkeit ihres Vaters lässt sie die bedrückenden Tage bei ihrem Pflegling, der jegliche Aufmunterung ablehnt, ertragen; sowie die Gehaltserhöhungen und inständigen Bitten von Wills Mutter.

 

Louisa soll Will wieder zu etwas mehr Lebensmut verhelfen. Doch gerade das scheint eine unlösbare Aufgabe zu sein.

Dennoch lässt sie sich einiges einfallen, organisiert Ausflüge und bringt Will wieder unter Menschen. Der reagiert darauf meist nur zynisch.

 

Erst als er Louisa Zugang zur Literatur verschafft und er ihr erfolgreich eine neue Facette in ihrem Leben aufzeigen kann, scheint er seine ablehnende Haltung aufzugeben. Hoffnung keimt in Louisa auf, ihrer Aufgabe doch noch gerecht werden zu können, denn die Zeit läuft ihr davon. Schließlich ist sie nur für ein halbes Jahr engagiert.

 

Warum eigentlich? Wieso nur für ein halbes Jahr?

Ein kontrovers diskutiertes Thema

Genau an der Stelle wird es ernst. Ich denke, ich muss keinen Spoileralarm ausrufen, bevor ich jetzt verrate, dass Will seinen Todeszeitpunkt bereits festgelegt hat. Er will zum Sterben in die Schweiz fahren. Der Termin steht seit Langem fest.

 

Ja genau, es geht um das Thema Sterbehilfe, um den selbstbestimmten Tod. Und dieses sensible Thema wird absolut großartig, weil kontrovers, aus verschiedenen Blickwinkeln und wunderbar unpathetisch behandelt.

 

Dem Leser wird sehr anschaulich und detailliert vermittelt, wie grausam eine solche Behinderung für den Betreffenden ist - vom absoluten Kontrollverlust, der lebenslangen Abhängigkeit von anderen, den dauernden Schmerzen, den häufigen Infektionen bis hin zur Aussichtslosigkeit auf Besserung; aber vor allem, wie sehr die Würde darunter zu leiden hat.

 

Keiner steckt in der Haut des Betreffenden, der eine solche Entscheidung für sich trifft. Keiner - außer ihm selbst.

 

Natürlich setzen Wills Mutter und Louisa alles daran, ihn davon abzubringen. Denn mittlerweile - wie sollte es anders sein? - haben sich Will und Louisa ineinander verliebt, und zwar ganz ohne romantischen Kitsch, ganz leise und still.

 

Genau das macht diesen Roman aus: die glaubwürdigen Charaktere und die vielschichtige Darstellung dieses schwerwiegenden Themas. Darüber hinaus erlebt der Leser, wie eine anfangs ziellose junge Frau an ihrer Aufgabe wächst und sich zu einem aufgeschlossenen, verantwortungsbewussten Organisationstalent entwickelt. Das macht Mut.

 

Fazit: In jeglicher Hinsicht großartig!!!

Deshalb gehört dieser Roman zu meinen Lieblingsbüchern 2024 und hätte es fast in meine TOP FIVE geschafft. In meine TOP SEVEN auf jeden Fall - wenn ich eine hätte.