· 

Projekt: Eulenstraße 81

Projekt: Eulenstraße 81

Post-Drogerie Johs. Baar, Eulenstraße 81 in Hamburg-Ottensen; Aufnahme um 1930
Post-Drogerie Johs. Baar, Eulenstraße 81 in Hamburg-Ottensen; Aufnahme um 1930

Was haben Hamburger Straßenbaustellen mit meinen Projekten zu tun gehabt?

Eine Menge. Es waren nämlich zu viele auf einmal. In der Konsequenz ging es auf keiner richtig voran.

Darum habe ich in meinem Jahresrückblick 2023 - Projekte, Erkenntnisse und neue Ziele beschlossen, dieses Jahr mit dem Hamburger Baustellenmodell – mal hier und mal dort ein wenig weiterzumachen – aufzuhören.

 

Mein Motto für 2024 lautet: REDUZIERUNG – KONZENTRATION – SCHWERPUNKTBILDUNG

Das habe ich bereits umgesetzt, indem ich mich den Februar über voll und ganz auf mein Herzensprojekt „Eulenstraße 81“ konzentriert und sämtliche andere Projekte hintenangestellt habe. Die haben Zeit. Dieses hier aber nicht!

Das Projekt

Darum geht es: die Lebenserinnerungen meines fast hundertjährigen Vaters - einst Drogist in Hamburg-Altona. 

130 maschinengeschriebene DIN A4-Seiten hat er von 2015 bis 2021 zu „Papier“ gebracht. Anfangs hat er tatsächlich eine ganze Kladde mit seiner unfassbar akkuraten Handschrift gefüllt.

Später, als es ihm immer schwerer fiel, einen Stift zu halten, bekam er einen ausrangierten Laptop, den er fortan als Schreibmaschine nutzte. 

Seine Aufzeichnungen geben Einblick in ein arbeitsreiches und pflichterfülltes Leben, als die Welt eine völlig andere war.

 

Mein Ziel: die Lebenserinnerungen, ergänzt mit Fotografien aus dem Familienalbum, meinem Vater zu seinem 100. Geburtstag als gebundenes Buch zu überreichen. Dafür habe ich mich über Monate mit der Chronik unserer Familie befasst und mich in die Lebensgeschichte meines Vaters vertieft – und den Februar über das Manuskript entsprechend aufbereitet.

Zur Entstehung

Als mein Vater Ende 2015 immer schlechter laufen konnte und ihm langweilig zu Hause wurde, bat ich ihn, seine Lebenserinnerungen aufzuschreiben. Schließlich ist er einer der letzten Zeitzeugen. Und wer kann außerdem schon auf ein ganzes Jahrhundert zurückblicken?

 

Zuerst wusste er nicht, was er groß aufschreiben sollte. Das Familienalbum gab den ersten Anstoß, denn viele der dort Abgebildeten kannte ich gar nicht. Also fing er an, die Fotos zu beschriften und mir von unserer einst umfangreichen Familie zu erzählen. Während des Schreibprozesses fielen ihm immer mehr Episoden aus seinem Leben ein, sogar manches, das er längst vergessen glaubte.

Alte Schwarz-Weiß-Fotografien

Die Großmutter der Autorin Aurelia L. Porter mit Geschwistern. Dieses Foto ist um die Jahrhundertwende entstanden.
Meine Großmutter mit ihren Geschwistern. Dieses Foto ist um die Jahrhundertwende entstanden.

Fast einhundert gescannte Fotos aus dem Familienalbum habe ich in das Manuskript eingefügt. Zum Glück haben mein Vater und dessen Vater für damalige Zeiten relativ viel fotografiert. Als Drogisten saßen sie ja an der Quelle. So konnte ich aus dem Vollen schöpfen.

 

Auf den Schwarz-Weiß-Fotografien wirken die Familienmitglieder oft etwas steif, aber in den Erzählungen meines Vaters schillern sie in den buntesten Farben.

 

Einige Fotografien sind bereits über einhundert Jahre alt. Ich bin erstaunt, über was für eine gute Qualität sie verfügen. Eine Detailvergrößerung stellt kaum ein Problem dar, dank der anderen Aufnahmetechnik. Welche das war, könnte mein Vater bestimmt detailliert erklären. Ich allerdings muss da passen.

Familienleben in den 20er und 30er Jahren

Die von meinem Vater beschriebenen Familienmitglieder waren echte Charakterköpfe. So manches Mal habe ich mich an die Bildergeschichten von Wilhelm Busch erinnert gefühlt oder an die schrulligen Lehrer aus der „Feuerzangenbowle“ – leicht überzeichnet, mit vielen Ecken und Kanten und doch liebenswert. Auch die Szenen, in denen es „Familienknatsch“ gab, ließen mich oft schmunzeln.

Die beiden Omas beim sonntäglichen Spiel mit den Kindern/ 20er Jahre
Die beiden Omas beim sonntäglichen Spiel mit den Kindern/ 20er Jahre

Da gab es zum Beispiel die Oma, die jeden Sonntagnachmittag zum Kaffee kam, um die Familie zu besuchen und mit den Kindern zu spielen. Auf Plattdeutsch ließ sie dann ihre Sprüche los. Sie nahm die Hände meines Vaters in die ihren und sprach: „Wat düsse lütte Händ wohl noch alles moken mütt.“ Oder an meines Vaters Vater gewandt, der ebenfalls Drogist war: „Hannes, du häst dat goot, nimmst for fief Penn Schiet, n beten umröhren, kriegst ne Mark för!“

 

Mein Vater hat auch über die Streiche berichtet, die er und sein Bruder der Mutter gespielt haben; über seine Leibgerichte wie Fliederbeersuppe mit Apfelschnippel und baggenen Klößen oder Arme Ritter mit Backobst; über Spiele wie Kippel-Kappel und über ihre Haustiere (Wellensittiche, Kanarienvögel und Fische), die in Obhut der zu Hause Gebliebenen nach den Ferien plötzlich anders aussahen!

Kriegsjahre und Steckrübenzeit

Die Kriegsjahre wollte mein Vater anfangs aussparen, zu schrecklich seien die Erinnerungen, sagte er.

Im Winter 1943 hat er sich in Russland das Wadenbein gebrochen, als er in eine überfrorene Pfütze trat. Das hat ihm das Leben gerettet. Alle seine Kameraden sind später bei Stalingrad gefallen.

 

Das Bein bis zum Bauch eingegipst, lag er auf dem Hauptverbandsplatz in Witebsk. Die Stadt war inzwischen eingekesselt. Mit einer der letzten Ju 52 wurde er ausgeflogen. Das Lazarett in Schwerin bleibt daher die einzig gute Erinnerung an diese furchtbare Zeit. 

 

Zum Glück sind mein Vater und seine beiden Brüder unversehrt aus dem Krieg zurückgekehrt. Und auch sein Vater hat als Gas-Spürer überlebt. Einzig ein Onkel ist im KZ umgekommen; er hatte seiner Vermieterin gegenüber eine abfällige Bemerkung über Hitler gemacht und wurde von ihr denunziert.

 

Ich bin froh, dass ich meinen Vater davon überzeugen konnte, wie wichtig gerade diese Erlebnisse für die Nachwelt sind. Daher gibt es jetzt ganze Kapitel zu den Themen: Hitlerjugend, Arbeitsdienst, Wehrmacht, Evakuierung, Einquartierung, Besatzungszeit und Hungerjahre.

Ich zitiere: In den Jahren 1945 bis 1949 gab es zu Ostern für jeden eine Scheibe Steckrüben, eiförmig geschnitten. Sie landete morgens, mittags und abends als einziges in unseren Mägen!

Post-Drogerie

Einen großen Teil der Aufzeichnungen nimmt die Lehre zum Drogisten in den 40er Jahren ein sowie die anschließende Tätigkeit in der väterlichen Drogerie in der Eulenstraße (50/60er und Anfang 70er Jahre), wo auch ich aufgewachsen bin.

Wenn mein Vater beschreibt, was er in seiner Ausbildung zum Drogisten damals alles hat lernen müssen, so könnte man meinen, es handele sich um ein halbes Chemie- und Pharmaziestudium. Sagenhaft!

 

Früh übt sich, wer eine Drogistin werden will: die Autorin Aurelia L. Porter als Kind hinter der Tonbank
Früh übt sich, wer eine Drogistin werden will: ich als Kind hinter der Tonbank

Als Kind haben mich die vielen kleinen Schubladen voll geheimnisvoller Inhalte fasziniert. Da gab es Fächer mit Katzenfellen gegen Rheuma, riesige Fässer mit Gips und Kreide, eine Dunkelkammer zum Entwickeln von Filmen und große Glasballons mit Borwasser oder Salmiakgeist. Letzterer wurde in kleine Flaschen abgefüllt, wonach sich ein beißender Geruch ausbreitete und lange hielt.

 

Beim Überarbeiten dieses Lebensabschnittes sind mir viele Kindheitserinnerungen gekommen: das Spielen in der Eulenstraße und rund um den Block mit seinen schönen Treppenhäusern und vielen Hinterhöfen (abenteuerlicher als jeder Spielplatz!); aber auch der Geruch in der Drogerie, der von den vielen Drogen (getrockneten Kräutern) herrührte. Zu gerne knabberte ich an einer Süßholzstange (Zutat für Lakritz) oder steckte mir beim Abwiegen von Salmiakpastillen heimlich welche davon in den Mund.

Nicht auszuschließen, dass meine Kindheit in der Altonaer Drogerie (60er Jahre) eines meiner nächsten Projekte wird.

Schlusswort

Ob es DAMALS eine bessere oder schlechtere Welt gewesen ist, sei dahingestellt. Auf jeden Fall eine völlig andere, die auch ihre Reize hatte. Obwohl viele Arbeiten mühseliger, Komfort oder gar Luxus nicht für jeden zugänglich und Freizeit reichlich knapp war, so hat doch neben den vielen Verpflichtungen sehr viel mehr Leben und Miteinander stattgefunden als heute.

 

Das Besondere an den Aufzeichnungen meines Vaters ist, dass sie einen Blick auf ein Leben jenseits jeglicher Privilegien gewähren, wie wir sie aus Autobiografien von Prominenten kennen.

Hier kommt ein einfacher Bürger zu Wort und schildert die schönen Seiten seiner Kindheit und die schrecklichen seiner Jugend sowie die Nöte im Alter. Aufrichtig und schonungslos.

Familie und Freunde, das erste Auto, die ersten Urlaube ebenso Familienzwistigkeiten und die Demenzerkrankung meiner Mutter sind Thema. Es sind viele Herausforderungen, die das Leben an den ehemaligen Drogisten gestellt hat. Und immer hat er sein Bestes gegeben, um seine Pflichten gegenüber der Familie zu erfüllen.

 

Daher empfinde ich es als wichtige Aufgabe, das Erlebte eines der letzten Zeitzeugen zu konservieren.

1924 bis 2024 – was für eine spannende Zeitreise!


Falls auch Sie sich mit einem solchen Projekt beschäftigen, kontaktieren Sie mich gerne. Ich bin sehr an einem Erfahrungsaustausch interessiert. Wie ist es Ihnen mit der Beschäftigung Ihrer Familienchronik ergangen? > Kontakt