Leseprobe


Kapitel 9: Die Türen (Seite 547 bis 550)

 

Der Raum war voller Fremder, die wie Schatten hin und her huschten. Zwischendurch blieben einzelne von ihnen stehen und schauten sich ratlos um, fragten die Vorbeigehenden etwas und hasteten dann suchend weiter. Manche notierten sich etwas auf Blöcken, bevor sie zielstrebig weitergingen, andere ließen sich einfach von der Menge treiben. Das Bett neben ihm war leer.

»Wo ist meine Tante?«, fragte er die Vorbeigehenden. »Hat jemand von Ihnen meine Tante gesehen?« Sie schienen ihn nicht zu hören. Einen nach dem anderen sprach er an, doch sie gingen wortlos vorüber, um schließlich durch eine der vielen Türen zu verschwinden, die er zuvor nie bemerkt hatte.

»Tante Judith!«, rief er aus voller Kehle. »Wo bist du?«

Meint Ihr die Rothaarige, junger Mann? Ein Herr im Gehrock war neben seinem Bett stehen geblieben. Die schiebt den Rollstuhl.

»Den Rollstuhl? Den Rollstuhl der Krüppelin?«

Es ist eine Erkrankung des Nervensystems. Inoperabel. Nicht therapierbar.

Der Arzt ging weiter.

Plötzlich entdeckte Nicolae inmitten der Leute seinen Schatten. Tudor wandte sich mit einem vielsagenden Lächeln zu ihm um. Wir sehen uns bald wieder, Wächter ...

Verwirrt schaute Nicolae ihm hinterher, bis dieser ebenfalls durch eine der vielen Türen verschwand.

»Wächter? Was soll ich denn bewachen?«

Die Türen, Nicolae!, rief ihm von Ferne eine vertraute Stimme zu. Es sind Pforten zu anderen Welten. Nur du kannst den Umherirrenden die richtige Tür weisen.

»Aber wieso laufen dann alle einfach an mir vorbei?«

Weil du sie bisher nicht wahrgenommen hast. Du hast deine Augen zu lange geschlossen gehalten. Du musst sie öffnen – für alle Welten.

Die vertraute Stimme war näher gekommen. Plötzlich entdeckte er inmitten der betriebsamen Menschenmenge ihr Gesicht. Seine Augen leuchteten grünlich im Zwielicht des Raumes.

Schau hinter die Türen, Nicolae! Du wirst dich wundern ... Ein geheimnisvolles Lächeln legte sich um seinen Mund. Dann verblasste das Gesicht und löste sich, wie sein Schatten zuvor, in der Menge auf.

Erhebe dich, Nicolae!, hörte er die Stimme plötzlich in aller Deutlichlichkeit in seinem Kopf.

Folgsam schlug er die Bettdecke zurück und blickte staunend auf seine Schienbeine, die unter dem Nachthemd hervorschauten. Sie waren muskulös und behaart. Beunruhigt fuhr er sich ins Gesicht und spürte den Flaum auf seiner Oberlippe.

Von jetzt ab wirst du deinem Vater bei seiner Aufgabe zur Seite stehen, befahl die Stimme. Die Zeit ist reif. Stehe auf und schließe alle Türen – bis auf die eine!

Nicolae gehorchte und schloss eine Tür nach der anderen, nachdem die Menschen hinter ihnen verschwunden waren. Nur eine ließ er geöffnet.

»Und Tante Judith? Habe ich sie jetzt womöglich ausgesperrt? Was ist, wenn sie nicht zu mir zurückfindet?«

Das wird sie, Nicolae. Dein Vater passt auf ihre Schritte auf und wird sie dir zur Seite stellen, sobald es vonnöten ist.

»Nein, sie steht jetzt der Krüppelin zur Seite! Jemand hat sie ihren Rollstuhl schieben sehen.«

Du bist eifersüchtig, Nicolae. Du solltest dich schämen!

Das Gesicht seines Vorfahren tauchte dicht vor dem seinen auf und schaute ihm streng auf den Grund seines Herzens. Nicolae spürte, wie ihm das Blut zu Kopfe stieg.

»Warum ist sie in unsere Welt eingedrungen? Warum?«, fragte er seinen Vorvater und gewahrte zu seiner Schande, dass sein Ton dem eines quengelnden Kindes glich. »Sie gehört nicht zu uns! Es war alles gut so, wie es war.«

Dein Vater hat sie aus ihrer Welt gerettet.

»Gerettet?«

Sie war eine Suchende, eine Sehnende. Dein Vater hat sie aufgespürt und ihr den Weg in unsere Welt gewiesen. Das ist seine Aufgabe, Nicolae, wie es fortan deine Aufgabe sein wird. Du musst den Suchenden den Weg weisen, ihnen die richtigen Türen öffnen, damit sie unsere Welt betreten können. – Doch nur jene, die dafür bereit sind.

»Woher weiß ich das?«

Du wirst es wissen!

»Ich brauch meinen Vater, wenn schon meine Mutter nicht bei mir sein kann, oder wenigstens meine Tante. Aber die Krüppelin hat mir beide genommen. Ich fühl mich einsam in diesem Raum.«

Wie kannst du einsam sein, Nicolae, wenn ich bei dir bin?

»Ihr seid nur ein Traum, das weiß ich. Ihr seid nicht real. Nur ein Geist, der gelegentlich zu mir spricht.«

Nur ein Geist? Ist ein Geist etwa nichts, nur weil ihn die Sterblichen nicht sehen können? – Demnach wäre Gott auch nichts, denn Ihn können die Menschen auch nicht sehen!

»Aber sie können Ihn spüren! Viele sprechen mit Ihm, und Er hört ihnen zu. Mit einigen spricht auch Er.«

Wie du redest, Nicolae! Wie ein Kind! – Sprichst du mit mir etwa nicht? Höre ich dir etwa nicht zu? Spreche ich nicht zu dir? Du kannst mich sogar fühlen – hier, nimm meine Hand!

Erschrocken wich Nicolae zurück.

»Nein!«, rief er aus. »Geister haben keinen Körper. Meine Hand würde durch Eure hindurchgreifen wie durch einen weißen Nebel.«

Was du nicht alles zu wissen glaubst! Ein leises metallisches Lachen füllte Nicolaes Ohr und ließ ihn erschauern.

Im nächsten Augenblick fand er sich in den starken Armen seines Vorfahren wieder. Er gewahrte den Geruch, der von seinem langen, gelockten Haar ausging.

»Ihr riecht nach Honig und Jute, Großvater«, sagte Nicolae und erschrak. Doch sein ehrwürdiger Vorfahr schien sich nicht an dieser Anrede zu stoßen. Nicolae spürte dessen schwere Hand auf seinem Kopf ruhen, während kalte Lippen seine Stirn berührten.

Mein Kopf lag lange Zeit in einem Sack mit Honig, vernahm er die Antwort, zwecks Konservierung.

Als Nicolae den Blick hob, blieben seine Augen unwillkürlich an der Kehle seines Vorfahren hängen, wo eine hässlich geschwollene Linie blassrot hervortrat, an der einst der Kopf vom Leib getrennt worden war. Ein entsetzlicher Gestank stach ihm auf einmal in die Nase, fremdländische Schlachtrufe gellten ihm in den Ohren und ein Gemetzel von bluttriefenden Klingen und Körperteilen schob sich vor seine Augen. Ein Bild, das ihm schon einmal vor Grauen das Herz fast zum Stehen gebracht hatte.

»Hört auf!«, schrie Nicolae voller Entsetzen. »Ich will das nicht schauen! Ich will das nicht hören! Ich will das nicht riechen! Hört auf damit!«

Im nächsten Augenblick umgaben ihn Dunkelheit und Stille, sogar sein aufgeregtes Herz schwieg. Abermals spürte er eine schwere Hand auf seinem Kopf, während kalte Lippen seine heiße Stirn berührten. Er traute sich kaum, die Augen zu heben, zu sehr fürchtete er den Anblick der grässlichen Narbe.

»Nicolae, du zitterst! – Komm, nimm eine zusätzliche Decke!«

Erst jetzt bemerkte er den erdigen Geruch, der den des Honigs überlagerte. Erleichtert schlug er die Augen auf.

»Ich hatte einen ganz furchtbaren Traum, Papa!«

»Ich weiß, Nicolae. Ich weiß.«