Reflektion einer Mutter-Tochter-Beziehung
Von diesem Buch hat mir eine Freundin vorgeschwärmt. Und OBWOHL es mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2025 ausgezeichnet wurde, habe ich es TROTZDEM gelesen.
Falls Sie sich jetzt über meine Wortwahl wundern: Meine Erfahrungen mit prämierten Büchern sind ähnlich wie die mit Spiegel-Bestsellern - nicht so gut. Daher meine Zurückhaltung.
Doch diesmal wurde ich positiv überrascht. Um es vorwegzunehmen: Ich habe diesen Roman mit breitrandigen 221 Seiten in Seniorenschriftgröße sehr gerne gelesen. Auch inhaltlich erfüllt das Buch mehr die Kriterien einer Erzählung. Denn sie konzentriert sich auf eine Mutter-Tochter-Beziehung, weitere Figuren tauchen nur am Rande auf und sind nicht groß von Bedeutung.
So viele Notizen wie zu diesem Buch habe ich mir selten gemacht. Denn ja, die Geschichte regt zur Reflektion der eigenen Mutter-Kind-Beziehung an und vergleicht darüber hinaus zwei unterschiedliche Generationen mit ihren Wertevorstellungen und Zukunftsfragen.
Darum geht es konkret:
Annett hat ihre Tochter Linn allein aufgezogen. Ihr Mann ist durch einen Herzinfarkt viel zu früh verstorben, als Linn noch ein kleines Kind war. Inzwischen arbeitet die 25-jährige Linn als Umweltmanagerin für einen Aufforstungsbetrieb. Bei einem Vortrag bricht sie zusammen und verbringt die Rekonvaleszenz bei ihrer Mutter in einem kleinen Ort an der Nordsee.
Doch aus Tagen werden Wochen. Linn scheint nicht die Absicht zu haben, ihren Job wieder aufzunehmen. Tagelang hängt sie herum, was Annett zu wurmen beginnt - aber auch zu ängstigen. Steckt womöglich mehr dahinter? Ein Burn-Out, eine Depression? Und warum ist Linn so kurz angebunden und antwortet nur einsilbig?
Das alles passt nicht zu ihrer Tochter, die bisher sowohl Schule als auch Studium zielstrebig absolvierte und sich nebenbei für Umweltprojekte im Ausland engagierte. Sprich: immer gut funktionierte.
Linn lässt sich weiterhin treiben, bis Annett sie zur Rede stellt. Da erfährt sie, dass ihre Tochter den Job und auch ihre Wohnung in Berlin gekündigt hat und wieder in dem verschlafenen Nest an der Küste bei ihrer Mutter wohnen will.
Annett ist fassungslos. Sie versteht nicht, warum ihre Tochter keinerlei Initiative ergreift, um ihre vielversprechende Karriere fortzusetzen oder sich zumindest etwas Adäquates zu suchen. Stattdessen will Linn in der Bäckerei im Ort arbeiten. Wie bitte, Brötchen verkaufen?! Dafür hat sie nun also geschuftet, um ihrer Tochter Studium und Auslandsaufenthalte zu finanzieren?
Das ist die Ausgangssituation. Durch das enge Zusammenleben der beiden Frauen bricht einiges an Altlasten auf, was zwischen Mutter und Tochter bisher unausgesprochen geblieben ist. Zwei völlig verschiedene Perspektiven, die der unterschiedlichen Generationen geschuldet sind, aus denen sie stammen. Dabei sind die "Vorwürfe" der Tochter ebenso nachvollziehbar wie die "Rechtfertigungen" der Mutter. Beide sind eben Kinder ihrer Zeit. Und so wird es auf ewig Generationskonflikte geben.
Wie soll es denn jetzt weitergehen? Wie stellst du dir deine Zukunft vor?
Aaargh! Das sind wohl die meistgehassten Fragen, die Eltern ihren Kindern nur stellen können.
Linn reagiert darauf überraschend ruhig und analytisch:
Es soll gut für mich laufen. Dann geht es auch dir gut. Du bist wütend auf mich, weil ich das gerade nicht liefere.
Sie fordert von ihrer Mutter Vertrauen. Sie wisse sich selbst zu helfen - und zwar in ihrem eigenen Tempo. Was sind schon zwei, drei Monate in einem ganzen Leben?
Das ist absolut stark! Denn genau daran mangelt es m. E. sehr oft: an Vertrauen in die eigenen Kinder. Nicht nur bei den sogenannten Helikoptereltern, die alles für ihre Kinder regeln, ihnen sämtliche Hindernisse aus dem Weg räumen und sogar ihre beruflichen Karrieren einleiten, sodass diese nicht aus eigener Kraft wachsen können.
Linn bringt es auf den Punkt:
Manchmal habe ich den Eindruck, ich bin ein Projekt für dich ... Ich soll deine Hoffnungen erfüllen.
Ich vermute, dass sich bei dem Satz viele Eltern ertappt fühlen. Hoffentlich.
Obwohl er ja ein Evergreen ist. Sollte nicht schon Wolfgang Amadeus die Hoffnungen Leopold Mozarts erfüllen?
Aber das ist nur der Anfang der ausbrechenden Konflikte. Auch der Umgang der Mutter mit der Trauer um Linns verstorbenen Vater kommt aufs Tapet: wie das Thema totgeschwiegen wurde und die Mutter Linn eine heile Welt vorspielte. Linn beklagt Annetts mangelnde Authentizität.
Naja, da wiederum kann man der Tochter mangelndes Einfühlungsvermögen in die damalige Situation der Mutter vorwerfen, die plötzlich allein für ihr Kind und ihr gemeinsames Leben verantwortlich war - und das in noch sehr jungen Jahren.
Fürsorge und Freiheit, das eine schränkt das andere ein. Zu diesem Schluss kommt Annett. Und fragt sich: Was heißt übermäßig fürsorglich? Wo ist das Richtmaß?
Alterstechnisch müsste ich eher die Sichtweise der Mutter verstehen, aber zu meiner eigenen Überraschung war ich oft eher auf Seiten der Tochter. Nur zum Schluss wurden mir deren "Generationsvorwürfe" zu bunt, um nicht zu sagen zu mainstreamig. Die Generationen wurden ja bereits zur Genüge medial gegeneinander aufgehetzt.
Auf den letzten Seiten wird noch der Bogen über den Corona-Lockdown zu den Klima-Klebern gezogen. Gesellschaftsrelevante Themen müssen sein, wenn man einen Preis erhalten möchte, das ist nun mal so - selbst wenn sie inzwischen lauwarmer Kaffee sind.
Ich kann mir nicht helfen: Das wirkte auf mich etwas gewollt mit einem schielenden Blick Richtung Juroren.
Aber das ist auch schon mein einziger Kritikpunkt am Inhalt. Ansonsten: Ein starkes Buch!
Allerdings habe ich ein paar Kritikpunkte verlagstechnischer Art:
- Der Titel "Halbinsel" suggeriert, dass der Handlungsort eine gewisse Rolle spielt. Dem ist nicht so. Statt in einem kleinen Ort an der Nordsee hätte die Handlung ebenso gut in einem Dorf im Westerwald stattfinden können. Daher sollte man - abgesehen von zwei Wattwanderungen inklusive Sage - nicht zu viel Lokalkolorit erwarten.
- Das Cover empfinde ich als ziemlich nichtssagend. In der Buchhandlung hätte ich nicht zu dem Buch gegriffen. Eine Frau von hinten. Was soll mir das sagen? Dass es sich um einen sogenannten Frauenroman handelt? Tut es das denn, nur weil Mutter und Tochter die Protagonisten sind? Vielleicht hätten zwei Personen unterschiedlichen Alters aufs Cover gehört. Um zumindest den "Generationskonflikt" anzudeuten.
- Zwar steht das Wort "Roman" nur ganz klein auf dem Einband, ist aber trotzdem irreführend. Es ist eine Erzählung - und zwar eine verdammt gute. Was spricht dagegen, es auch so zu benennen? Das Werk besitzt genug Größe.
Diese drei Kritikpunkte an der Verpackung tun jedoch dem tiefgreifenden Inhalt dieser Erzählung keinen Abbruch.
Von daher steht dieses Buch in der Anwartschaft zu meinen Top Five 2025.
Haben Sie das Buch auch schon gelesen? Wie sind Ihre Erfahrungen damit? Lassen Sie es mich gerne wissen.
