Der schönste Kinderroman Englands - auch für Erwachsene

Ich liiiebe dieses Buch! Statt fünf Sterne vergebe ich fünf Herzen - wenn ich diese Art von Bewertung machen würde. Tue ich aber nicht. Es ist jedenfalls eines der schönsten Stücke Literatur, die mir je begegnet ist.
Mit kindlicher Weisheit wird hier unaufgeregt, ja fast schon sachlich, über die Macht (Magie) der Natur erzählt und über die Wunder, die sie an der menschlichen Psyche vollbringen kann.
Ich weiß um diesen Wahrheitsgehalt, denn auch ich spüre die heilsame Wirkung der Natur und des Gärtnerns - ebenso wie die Kinder Mary, Colin und Dickon in dieser entzückenden Geschichte. Von mir aus hätte diese bis in das wirklich weise Alter der Hauptfiguren weitergehen können. Und auch der Co-Star, das Rotkehlchen, hätte dann eben so lange leben müssen - mit der Magie der Natur kein Problem!
Worum geht es?
Die mit Luxus überhäufte aber emotional vernachlässigte Mary Lennox wächst in Indien auf. Als eine Cholera-Epidemie ihre Eltern und alle Bediensteten dahinrafft, wird die Zehnjährige plötzlich zur Vollwaise und auf das Anwesen ihres ihr bis dahin unbekannten Onkels in England geschickt.
Dort ist sie wiederum auf sich allein gestellt. Denn ihr Onkel treibt sich in der Welt herum, um den Kummer über seine vor zehn Jahren verstorbene Frau zu bewältigen. Das verwöhnte Mädchen muss nun erstmals lernen, sich selbst anzukleiden, denn in Indien hat ihre Kinderfrau alles für sie getan. An eine Gouvernante hat ihr Onkel nicht gedacht und die Dienerschaft lediglich angewiesen, für ausreichend Nahrung zu sorgen. Wegen Marys Launen geht diese ihr lieber aus dem Weg.
Nur das Zimmermädchen Martha, deren Familie in der Nähe lebt, lässt sich nicht von Marys sauertöpfischem Wesen vergraulen. Sie rät dem blassen und mageren Kind, möglichst viel an die frische Luft zu gehen.
Da Mary ohnehin nichts anderes zu tun bleibt, schaut sie einem der Gärtner bei der Arbeit zu. Aus dem wortkargen und stets grimmig dreinblickenden Ben Weatherstaff - ihr erwachsenes Pendant - bekommt sie anfangs nicht viel heraus, außer wenn er über seine Pflanzen und mit seinem Rotkehlchen spricht.
Mit der Zeit wird Ben Weatherstaff etwas gesprächiger, als er feststellt, dass Mary ein wirkliches Interesse an der Gärtnerei entwickelt. Sie stromert täglich durch die verschiedenen Gärten des Anwesens und erlebt, wie die Natur allmählich wieder zum Leben erwacht - und sie mit ihr. Endlich bekommt sie Farbe ins Gesicht und bringt einen gesunden Appetit mit nach Hause.
Eines Tages macht sie sich auf die Suche nach dem geheimen Garten, von dem Ben Weatherstaff ihr erzählt hat. Er hatte einst der verstorbenen Hausherrin, Marys Tante, gehört und wurde von ihr liebevoll gepflegt. Doch seit deren Tod durfte keiner den Garten mehr betreten. Marys Onkel hatte ihn einst abgesperrt und den Schlüssel vergraben.
Marys Neugier ist geweckt. Sie ruht nicht eher, als bis sie die verborgene Pforte findet und mit Hilfe des Rotkehlchens auch den dazu passenden Schlüssel. Als sie den völlig verwilderten Garten betritt, steht sie wie verzaubert da. Denn die darin noch im Winterschlaf befindlichen Rosenranken haben selbst hohe Bäume und die umlaufende Steinmauer überwuchert. Instinktiv beginnt Mary um die Wurzeln der Rosen herum das Unkraut auszureißen. Sie will ihren eigenen Garten haben und bepflanzen - und zwar diesen! Doch das soll ihr Geheimnis bleiben.
Unauffällig fragt sie den Gärtner nach der richtigen Pflege von Blumen und Pflanzen. Und da nun auch ihre Seele durch den täglichen Aufenthalt in der Natur erwacht und ihr Wesen allmählich umgänglicher wird, weiht sie Martha in ihr neues Hobby ein. Diese erzählt ihr von ihrem zwölfjährigen Bruder Dickon, der ein Kind der Heidelandschaft Yorkshires ist und jede Blume zum Blühen bringt und jedes wilde Tier zu zähmen weiß. Von ihm lässt sich Mary über Martha heimlich eine Grundausstattung an Gartengeräten besorgen und ein paar Tüten mit Blumensamen.
Bei den Gesprächen mit Martha erfährt Mary immer mehr über das Leben der einfachen Landbevölkerung und wie es in Marthas armen, aber herzlich einander zugewandten Familie zugeht. Mary wünscht sich ebenfalls eine Mutter wie die von Martha und Dickon. Zum ersten Mal wird ihr bewusst, dass sie elterliche Fürsorge entbehrt.
Als im beginnenden Frühling einige Regenwochen anstehen und Mary nicht ihrer geliebten Beschäftigung nachgehen kann, beginnt sie die vielen leerstehenden Räume - es sollen an die Hundert sein! - des Herrenhauses zu erkunden. Vor einiger Zeit meinte sie von irgendwoher ein Weinen gehört zu haben, aber die Dienerschaft, danach befragt, stellt sich unwissend.
Eines Tages entdeckt Mary in einem abgelegenen Teil des Hauses den fast gleichaltrigen bettlägerigen Colin, Sohn ihres Onkels und damit ihr bis dahin unbekannter Cousin. Einsam und verlassen liegt er dort in seinem luxuriösen Gemach, nur der Hausarzt und die Haushälterin sind angewiesen, seinen Bedürfnissen nachzukommen.
Man hatte ihn vor ihr geheim gehalten, weil er ein zum Sterben verurteilter Krüppel sein soll, der regelmäßig zu hysterischen Anfällen neigt. Und weil er ebenso emotional vernachlässigt ist wie Mary, verhält auch er sich genauso unausstehlich und tyrannisch wie anfänglich sie selbst.
Colins Beine sind in der Tat verkümmert. Er hat panische Angst vor einem Buckel, der ihm angeblich wachsen und ihm durch den Druck auf die Lunge die Luft abschnüren wird. Seine ihm verbliebene Lebenszeit verbringt er mit Büchern und damit, die Dienerschaft herumzukommandieren.
Als Mary plötzlich in Colins Zimmer steht, bekommt dieser überraschenderweise keinen Schreikrampf, vor dem sich die Dienerschaft so sehr fürchtet, weil er in diesem Zustand - laut Martha - nicht zu beruhigen sei. Aber Mary zeigt keine Scheu vor ihm und fühlt sich ihm auch nicht unterlegen. Eine erste zaghafte Unterhaltung entspinnt sich.
Eines Nachts bekommt Colin wieder einen seiner unsinnigen Anfälle. Mary schreitet beherzt ein und gibt ihm tüchtig Contra. Vor Schreck vergisst Colin das Toben und beruhigt sich zum ersten Mal von alleine.
Von da an beginnt eine Freundschaft unter den beiden seelisch verwahrlosten Kindern, die gerade darum einander verstehen. Mary erzählt Colin von ihrem geheimen Garten und dieser hört ihr interessiert zu. Sie schildert ihm die dort wachsenden Blumen in den schillerndsten Farben, erzählt auch von Dickon, der so viel von Pflanzen und Tieren versteht und stets in Begleitung eines gezähmten Fuchses, einer Krähe, zweier Eichhörnchen und noch mehr tierischer Gesellen in Erscheinung tritt. Er hat ihr inzwischen heimlich geholfen, den verwilderten Garten auf Vordermann zu bringen.
Colins Augen beginnen zu leuchten und über Marys Erzählungen vergisst er seine Krankheit immer mehr.
Eines Tages schmiedet Mary den Plan, Colin aus dem Bett zu holen, damit er ihren geheimen Garten - und auch Dickon mit seinen zahmen Tieren - mit eigenen Augen sehen kann. Mit diesem aus Erwachsenensicht aussichtslosen Ziel vor Augen, beginnt ein Wunder ...
Dieses Buch handelt von der Heilkraft der Natur und der von positiven Gedanken. Mary versteht es, ihren Cousin Stück für Stück von seiner fixen Idee an sein frühes Ende abzubringen und an sich selbst und seine Heilung zu glauben. Und mit dieser Therapie, therapiert sie sich unwillkürlich selbst.
Ich habe das Buch im Original gelesen. Hatte ich zunächst noch Sorge, der Yorkshire-Dialekt würde mir Schwierigkeiten bereiten, so war diese nach nur wenigen Seiten wie weggeblasen. In der Originalsprache taucht man noch tiefer in das ländliche Yorkshire und in diese magische Geschichte ein.
Es versteht sich von selbst, dass dieses Büchlein einen Ehrenplatz in meiner Büchervitrine erhält. Zumal es eine Ausgabe der von mir geliebten Macmillan Collector's Library ist - mit Goldschnitt, farblich auf das Cover abgestimmtem Lesebändchen und einem hübschen Umschlag. Und auch der Buchsatz ist wieder einmal eine Freude. Ein wahres Schmuckstück eben - innen wie außen!