Rätselhafte Familiengeschichte

Dieses Buch hatte ich mir 2016 auf der Berliner Buchmesse gekauft. Mich sprach sowohl der geheimnisvolle Titel mit dem überaus stimmigen Cover als auch der vielversprechende Klappentext an.
Erst jetzt habe ich es gelesen und stehe vor einem Rätsel.
Alle Komponenten haben das Zeug zu einem richtig guten Roman. Und doch hat mich diese Geschichte nicht mitgenommen. Warum nicht?
Da ist zu einem die junge begnadete Klaviervirtuosin Matilda, die unter einem Waschzwang (und anderen Zwängen) leidet. Sie hat die verlassene Wohnung ihrer verstorbenen Uroma in Dresden bezogen. Ich fand es sehr erfrischend, dass der Handlungsort mal nicht Berlin ist.
Früh erfährt der Leser, dass sich ihre Mutter in einer psychiatrischen Klinik befindet, da sie unter schweren Depressionen leidet und nicht zum ersten Mal versucht hat, sich das Leben zu nehmen.
Damit haben wir schon mal mehr als einen spannenden Faktor beisammen. Denn ich will natürlich wissen: Was ist denn da los, in der Familie?
Nun ja, die Tochter leidet unter dem enormen Erfolgsdruck, den die Mutter seit frühester Kindheit auf sie ausübt. Das kennt man ja bei Musikerkarrieren im klassischen Bereich. Nix Neues also.
Und die Mutter leidet darunter, dass ihre Mutter (also Matildas unbekannte Oma) sie als Baby weggegeben hat und sie sich darum ungeliebt und unwert fühlt. Auch das so ein Klassiker aus der Psychologie.
Dann wird es wirklich spannend, denn in Matildas neuem Zuhause taucht plötzlich ein Fremder auf, der ganz offensichtlich aus einer anderen Zeit stammt. Ein Cellist, der wegen des Selbstmordversuchs seiner Cousine, seine Karriere hintenanstellt, denn die Tante ist eine ganz Böse und er mag seine Cousine nicht allein mit ihrer Mutter in der Wohnung lassen. Der Wohnung wohlgemerkt, die Matilda selbst gerade erst bezogen hat!
Die Schatten der Vergangenheit legen sich immer wieder über die Gegenwart und erzählen eine tragische Geschichte.
All das erfährt man bruchstückhaft über viele Seiten. So weit, so gut.
Leider geht der Protagonistin erst nach Zweidrittel des Buches auf, dass der immer wieder wie ein Gespenst in Erscheinung tretende Fremde - in den sie sich sogar verliebt! - ihr ihre eigene Familiengeschichte erzählt. Wir Leser haben diese Kenntnis jedoch bereits aus dem Klappentext, von daher verpufft das Überraschungsmoment. Schade.
Zwischen den Puzzleteilen, aus denen sich die in mehrerer Hinsicht traurige Familiengeschichte zusammensetzt, folgen immer wieder seitenlange mit musikalischen Fachbegriffen durchsetzte Episoden, die die Geduld des Lesers ziemlich herausfordern, jedenfalls meine. Ich finde es gut und richtig, dass ich etwas aus dem Alltag der Protagonistin an ihrem Musikinstrument erfahre, schließlich macht das Üben und Unterrichten einen Großteil ihres Lebens aus. Aber eine einzige dieser Beschreibungen hätte gereicht, da sie weder zur Atmosphäre noch weiteren Erkenntnissen beigetragen haben.
Dadurch nahm die Handlung einfach keine Fahrt auf. Normalerweise hätte ich das Buch nach 100 Seiten weggelegt, da es aber das einzige war, das mir im Urlaub verblieben war, habe ich weitergelesen in der Hoffnung, dass ... Aber nein. Es blieb spannungsmäßig auf demselben unteren Level.
Was mich allerdings regelrecht genervt hat, war, dass gefühlt auf jeder dritten Seite Matilda auf ihrer Unterlippe kaut oder sich die Hände blutig schrubbt. Das zog sich über 300 Seiten lang durch. Es gelegentlich einzuflechten, um daran zu erinnern, wie sehr eine Zwangsstörung das tägliche Leben beeinträchtigt, wäre ja okay gewesen. Aber es ständig zu wiederholen und dann noch im gleichen Wortlaut ...? Dadurch wurde die Protagonistin zudem auf ihre psychischen Probleme reduziert.
Durch diese Oberflächlichkeiten konnte ich leider keine der Romanfiguren wirklich erfassen. Sie blieben für mich blass und blutleer, lediglich mit ein paar Attributen versehen. Auch die schrille Freundin Chloe brachte keine Farbe hinein. Und dabei heißt doch der Verlag vielsagend "in Farbe und Bunt", was ich beim Kauf des Buches noch originell fand.
Wie des Öfteren frage ich mich auch hier: Wo war das Lektorat? Allein wenn man die störenden Elemente gekürzt und dafür die Charaktere und die Mutter-Tochter-Beziehung vertieft hätte, wäre einiges gewonnen gewesen. Einfach nur alle paar Seiten zu erwähnen, dass Matilda keine Lust hat ihre Mutter in der Klinik zu besuchen, um sich ihr nicht auszusetzen, und bei deren ersten Worten die Augen zu verdrehen, reicht eben nicht. Solch ein pubertäres Verhalten passt auch nicht zu einer Mittzwanzigerin, die trotz ihrer massiven Probleme in London studiert hat und Konzerte gibt.
Vielleicht gehe ich zu streng mit der Bewertung dieses Buches um. Es ist nur meiner enttäuschten Erwartung geschuldet, denn ich habe viel Potenzial in den Bestandteilen dieses Romans gesehen. Es wäre bestimmt ein toller Filmstoff!
In erster Linie sehe ich die Mängel jedoch beim Verlag. Aus dem Manuskript hätte man eine Menge mehr herausholen können.
Daher wird dieser Roman seinen Weg in den öffentlichen Bücherschrank gehen und hoffentlich jemand anderen Lesevergnügen bereiten.