Ein Englischer Klassiker

Was ich an den Klassikern des 19. Jhs. liebe
Zuallererst die schöne Sprache. Es wurde damals sehr viel mehr Wert auf Ausdruck und Formulierungskunst gelegt. Das befriedigt mein ästhetisches Empfinden. Da ich mich mit dieser Art Literatur von frühester Jugend an verwöhnt habe, fällt es mir schwer, mich an die - manchmal sogar bewusst - schnodderige Sprache zeitgenössischer Romane zu gewöhnen.
Im Gegensatz zu heute durften Sätze auch über mehrere Zeilen gehen, ohne dass man Sorge hatte, den Leser damit zu überfordern. Ein gewisser Intellekt wurde bei der Leserschaft einfach vorausgesetzt.
Zudem erfreue ich mich an der Vielfalt von Adjektiven, die üppig, aber gezielt eingesetzt wurden, um Personen oder Landschaften zu beschreiben. Heute sind derartige "poetische" Beschreibungen geradezu verpönt. Warum? Angeblich, weil der Leser seine eigene Fantasie bemühen soll. Ich behaupte, weil den meisten Autoren die Fülle an Adjektiven abhandengekommen ist und es zudem viel Arbeit macht, nach den passendsten zu suchen. Oder aber weil diese nicht in der Gunst der Kritiker stehen und man sich bei ihrer Verwendung der Trivialliteratur verdächtig macht.
Ich aber liebe profunde Charakterisierungen, in denen sogar die Linie der Augenbraue Auskunft über das Wesen der Romanfigur gibt. Gesichtsausdruck, Form der Hände, Details der Kleidung, selbst wie die Schritte gesetzt werden ... alles ließ Rückschlüsse auf die Persönlichkeit zu - und lässt beim Leser ein präzises Bild der Wesensart entstehen. Literaturkritiker dieser Tage würden darüber die Nase rümpfen.
Unschlagbar aber sind die geistreichen Dialoge, in denen viel mehr steckt, als auf den ersten Blick erkennbar. Smalltalk - Geplauder - kann auch intelligent geführt werden, wie man sieht, und war im 19. Jahrhundert eine Kunst, die es auf dem gesellschaftlichen Parkett zu beherrschen galt. Gepflegte Konversation zu betreiben gehörte zur Ausbildung eines Gentleman oder einer Tochter aus höherem Hause. Nicht auf die bloße Aussage kam es an, sondern auf das WIE.
Doch das WIE verlangt Ausschmückung. Geht gar nicht in Zeiten, in denen man eher die lakonische Sprache bejubelt.
In den Klassikern wird gerne detailreich erzählt. Doch heutzutage wird der groben Skizze der Vorzug gegeben; da wird ein breitrandiges Büchlein in Schriftgrad 14 (früher nur bei Kinderbüchern) von gerade mal 200 Seiten bereits als Familiensaga gehandelt. Wie gesagt, darf die Fantasie des Lesers den Rest ausfüllen. Praktisch, oder?
Damals hingegen durfte ein Gesellschaftsroman durchaus mit gängigen 600 Seiten daherkommen: 654 bei "Jane Eyre". Thackerays "Jahrmarkt der Eitelkeiten" bringt es sogar auf über 900. Sie wurden gedruckt, obwohl Papier sehr teuer war.
Und dann - wie herrlich! - kommen immer wieder Begriffe wie "Tugend" und "Laster vor", ob bei Anthony Trollope, Wilkie Collins oder eben den Bronte-Schwestern. Denn moralische Werte waren die Basis eines jeden Gesellschaftsromans. Dabei ging es nicht um Belehrung, sondern darum, Dünkel und Doppelmoral aufzuzeigen.
Der viktorianischen Gesellschaft wurde in den Romanen ihrer Zeit oft der Spiegel vorgehalten, Kritik mit einem zwinkernden Auge geübt. Bei den Russen wie Dostojewski, Tschechow oder Puschkin rutscht die Kritik auch gerne mal ins Groteske ab, während die Franzosen ziemlich sachlich und ungeschönt soziale Aspekte behandeln. So jedenfalls mein ganz persönlicher Eindruck.
In fast allen literarischen Werken des 19. Jahrhunderts stecken viele Details, die uns ein genaues Bild jener Epoche liefern - von der damaligen Sicht auf die Welt, gesellschaftlichen Strukturen, dem Umgang miteinander bis zu gängigen Wertevorstellungen. Auch der damals herrschende Zeitgeist ist während der Lektüre spürbar. Und doch ist jede einzelne Geschichte geprägt von einzigartigen Charakteren und ihren Schicksalen. Wunderbar! DAS ist für mich wahre Literatur.
Jane Eyre
Vor 40 Jahren habe ich diesen Klassiker zum ersten Mal gelesen und war darum sehr gespannt, wie er heute - im reifen Alter - auf mich wirken würde. Wäre ich noch ebenso begeistert?
Noch viel mehr! Unfassbar, wie vertraut er mir war, als hätte ich ihn in all den Jahren immer und immer wieder gelesen. Das bezieht sich nicht so sehr auf die Handlung, als vielmehr auf die Atmosphäre des Romans. Ich fühlte mich sofort in ihm zu Hause.
Erstaunlicherweise hatte ich das erste Drittel des Buches - es wird in drei Bände unterteilt - noch ziemlich detailreich im Kopf. Wohingegen mir sowohl das Mittelteil mit seinen überraschenden Wendungen als auch das äußerst befriedigende Ende komplett entfallen waren. Eigenartig! Eigentlich hätte es umgekehrt sein müssen. Doch so blieb die Spannung bis zum Schluss erhalten.
Der Inhalt dürfte vielen bekannt sein, denn Jane Eyre ist einer der bekanntesten englischen Romane und wurde mehrfach verfilmt.
Die arme Waise Jane Eyre wird in die wohlhabende Familie ihrer empathielosen und hartherzigen Tante aufgenommen, wo sie unter deren verzogenen Kindern zu leiden hat. Als sie sich gegen die Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten zur Wehr setzt, wird sie als aufmüpfig und unbeherrscht beschimpft und auf ein kirchliches Internat geschickt.
Dort herrscht ein strenges Regime. Die Zöglinge bekommen kaum zu essen und sind ständigem Hunger und Kälte ausgesetzt - angeblich zur "Stärkung des Charakters". Als Typhus ausbricht, stirbt die Hälfte der Schülerinnen, wenn sie nicht schon zuvor an der Schwindsucht verstorben sind wie Janes beste Freundin. Denn die ausgemergelten Körper haben den Seuchen nichts mehr entgegenzusetzen.
Unmenschliche Zustände und grausame Behandlungen auf Internatsschulen kennen wir auch aus Charles Dickens Romanen. Beide Autoren sprechen aus eigenen Erfahrungen. Man darf also davon ausgehen, dass Charlotte Bronte mit dieser Beschreibung des Schulwesens öffentlich Kritik geübt hat.
Nachdem die Missstände an die Öffentlichkeit geraten, wird eine neue Schulleitung eingesetzt. Jane ist ehrgeizig, lernt schnell und wird an der Schule später selbst als Lehrerin unterrichten. Doch dann kommt der Zeitpunkt, an dem sie spürt, dass ihr Leben eine Veränderung braucht.
Sie tritt eine Stellung als Gouvernante in Thornfield Hall an und verliebt sich in ihren Arbeitgeber Mr. Rochester. Dessen Wesensart ist ebenso unkonventionell wie die von Jane. Zu ihrer Verwunderung fordert der Hausherr häufiger ihre Gesellschaft, obwohl ihr sozialer Stand und ihr junges Alter ihn von ihm trennen. Dennoch findet sie Gefallen an seiner geradlinigen Konversation und ist von seinem Wesen fasziniert. Ihn umgibt irgendein Geheimnis, dem sie auf den Grund zu gehen trachtet.
In dem alten Herrenhaus scheint es außerdem zu spuken, jedenfalls passieren des Nachts seltsame Dinge. Während Jane und ihr Dienstherr sich immer näher kommen, verdichtet sich die unheimliche Atmosphäre immer mehr.
Nach einigem Hin und Her, Zwischenspielen mit einer angeblichen Verlobten aus gutem Hause und Eifersüchteleien, gestehen sie einander ihre Liebe. Plötzlich besteht sogar die Aussicht auf eine Hochzeit zwischen der mittellosen 19-jährigen Gouvernante und dem wohlhabenden 43-jährigen Hausherrn von Thornfield Hall. Doch dann kommt alles anders.
Mehr möchte ich an dieser Stelle nicht verraten, falls Sie jetzt doch Lust bekommen haben sollten, das Buch zu lesen. Nur so viel: Zuweilen fühlte ich mich stark an Daphne du Mauriers "Rebecca" erinnert. Wer das Buch - oder die Verfilmung von Alfred Hitchcock - kennt, weiß, dass diese Aussage Spannung verspricht.
Erst hinterher habe ich gelesen, dass Daphne du Maurier tatsächlich von Charlotte Brontes "Jane Eyre" inspiriert wurde.
Es stecken noch so viel mehr Themen in diesem Roman, die ich hier gar nicht alle ausführen kann: Klassenunterschiede, religiöse Eiferer, gesellschaftliche Konventionen, Selbstbestimmung, moralische Werte usw.
Abseits der Thematik haben mich vor allem die Beschreibungen der inneren Zustände und die Charakterisierungen der Romanfiguren begeistert. Das ist große Formulierkunst.
Jane Eyre sollte man eigentlich gelesen haben. Keine Sorge, die Sprache wirkt - dafür, dass das Werk bereits 1847 erschienen ist - erstaunlich modern. Nun ja, das mag auch der neuen Übersetzung geschuldet sein. Mein altes Exemplar ist irgendwann verschüttgegangen, sodass ich mir eine dtv-Ausgabe von 2021 gegönnt habe - allein des hübschen Covers wegen! ;-)
Falls ich Sie inspirieren konnte, sich an diesen Klassiker zu wagen, lassen Sie es mich gerne wissen. Es würde mich sowas von freuen! Und ich wäre natürlich sehr gespannt, wie er Ihnen gefallen hat.