Kunst in der Nicolae-Saga Teil 2
Die englischen Präraffaeliten

Während in Frankreich der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Impressionisten die Malerei revolutionieren (siehe Kunst in der Nicolae-Saga Teil 1) und mit ihrer Freiluftmalerei eine Gegenströmung zur Ateliermalerei setzen, gründet sich in England bereits um die Mitte des Jahrhunderts die Bruderschaft der Präraffaeliten.
Es ist eine Gruppe von Malern - darunter berühmte Namen wie Rossetti, Morris, Burne-Jones, Hunt und Millais -, deren Ziel ebenfalls die Erneuerung der klassisch-akademischen Malerei ist. Ihre Gruppierung existiert zwar nur ein Jahrzehnt lang, hat aber massiven Einfluss auf die darauffolgende Kunst bis hinein in den Jugendstil.
Ihr Vorbild ist - wie der Name schon sagt - der berühmte italienische Renaissance-Maler Raffael, vielmehr dessen Vorgänger. Ebenso wie diese benutzen die Präraffaeliten leuchtende Farben und fordern eine präzise Darstellung der Natur. Daher ziehen sie schon weit vor den französischen Impressionisten hinaus in die Natur, um diese möglichst detailgetreu auf Leinwand zu bannen. Auch sie lehnen die akademische Malerei ab, insbesondere die im viktorianischen England so beliebte Porträt- und Genre-Malerei.
Die Themen der Präraffeliten sind oft religiöser, mythologischer oder literarischer Natur. Doch ihre ästhetische und naturalistische Darstellung steht im krassen Gegensatz zu der Zeit, in der sie leben.
Die schnell fortschreitende Industrialisierung und Technisierung ruft fast zwangsläufig eine Gegenbewegung hervor. So entsteht auch die Arts-and-Crafts-Bewegung um William Morris, dessen Tapeten- und Teppichmuster sich noch heute großer Beliebtheit erfreuen. Kunst dient ihnen als Heilmittel von der entmenschlichten Industrie-Produktion.
John Everett Millais

John Everett Millais galt als Wunderkind und wurde bereits im Alter von 11 Jahren in die Londoner Royal Academy of Arts aufgenommen. Dort lernte er William Holman Hunt kennen, mit dem er ein gemeinsames Atelier unterhielt.
1848 gründeten die beiden zusammen mit weiteren namhaften Mitgliedern die Bruderschaft der Präraffaeliten.
Sein berühmtestes Gemälde ist "Ophelia" von 1852, das eine Figur aus Shakespeares "Hamlet" kurz vor dem Ertrinken darstellt. Es befindet sich in der Tate Gallery in London.
William Holman Hunt

William Holman Hunt nahm während seiner Lehre zum Kaufmann Zeichenstunden. Er war ein Bewunderer von John Ruskins mehrbändigem Werk Modern Painters und den Gedichten von John Keats. 1849 gelang ihm die Aufnahme in der Royal Academy of Arts, wo er sich mit John Everett Millais (siehe oben) befreundete.
Seine nach der Gründung der Bruderschaft ausgestellten Gemälde erfuhren jedoch scharfe Kritik und rigorose Ablehnung beim Publikum.
Hunt war gläubiger Anglikaner und betonte die religiöse Ernsthaftigkeit der Bruderschaft. Daher sind seine Sujets oft biblischer Natur. Das 1870 entstandene Gemälde "Der Schatten des Todes" malte er 16 Jahre nach seiner Reise ins Heilige Land. Doch die detailreiche und übergenaue Darstellung der Werkstätte des Zimmermanns, wurde ihm als symbolhafte Sozialkritik vorgeworfen.
Dante Gabriel Rossetti
Der in London geborene Dichter und Maler Dante Gabriel Rossetti war die Gallionsfigur der Präraffaeliten und treibende Kraft der Bewegung. Er galt als exzentrischer Sonderling und führte ein skandalumwittertes Leben.
Zusammen mit Millais und Hunt lebte er als Bohemien. Um ihre Verachtung der viktorianischen Konventionen Ausdruck zu verleihen, trugen sie statt Krawatte ein geknotetes Tuch.
Der charismatische Rossetti machte die Gedichte und Gemälde von William Blake wieder populär und war zudem ein großer Förderer von Edward Burne-Jones und William Morris.
Doch die Grundsätze der Präraffaeliten soll er nie sonderlich ernst genommen haben. Er entwickelte seine eigene Art der Malerei. Bekannt sind vor allem seine sinnlichen Gemälde ätherischer Frauen, die oft mythologischen oder literarischen Ursprungs sind.
Edward Burne-Jones

Edward Burne-Jones, einer der wichtigsten Vertreter der Präraffaeliten, war eng mit William Morris, dem Begründer der Arts-and-Crafs-Bewegung befreundet. Beide lernten sich zu Studienzeiten in Oxford kennen. Als Burne-Jones erstmals ein Gemälde von John Everett Millais sah, beschloss er, sein Theologie-Studium hinzuschmeißen und Künstler zu werden.
Wenig später lernte er Ruskin und Rossetti kennen. Er versuchte sich in Ölmalerei, Glasmalerei und Tuschezeichnungen, später auch Aquarell. Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern einer von Morris ins Leben gerufenen Firma und wurde dort zum führenden Designer für Glasmalerei. Später fertigte er 87 Buchillustrationen an, die zur Ausstellung in der Arts-and-Crafts-Gesellschaft kamen und ihm zu großem Erfolg verhalfen.
Seine Werke waren geprägt von den Themen Liebe, Betrug, Reue und Vergebung - etwas, das er aus seinem privaten Leben entnahm und in mythologische Gewänder kleidete.
Außerdem scheint er ein Faible für die Artussage gehabt zu haben, wie man dem obigen Gemälde: Der Tod König Artus in Avalon und dem Wandteppich unten: Sir Galahads Errungenschaft des Heiligen Grals entnehmen kann;
Letzterer ist übrigens eine Gemeinschaftsarbeit von Edward Burne-Jones, William Morris und John Henry Dearle (ein Textil- und Glasdesigner und Schüler von William Morris).
Für seine Werke in der Malerei und im Kunsthandwerk wurde Edward Burne-Jones mehrfach ausgezeichnet. Diese sowie seine Illustrationen hatten einen starken Einfluss auf den französischen Symbolismus und Art Nouveau (Jugendstil).

William Morris
Der künstlerisch vielseitig begabte William Morris war Dichter, Maler, Architekt und Kunsthandwerker. Während seiner Studienjahre freundete er sich mit Edward Burne-Jones an.
In Oxford lernte er auch Dante Gabriel Rossetti kennen sowie seine zukünftige Frau Jane Burden, die mit ihrem kupferroten Haar und ihrer hellen Haut den Präraffaeliten als ausgesprochene Schönheit und Muse galt. (Siehe Gemälde von Rossetti.)
Sowohl Morris als auch Burne-Jones lehnten industriell gefertigte Waren ab und legten Wert auf handwerklich hergestellte Produkte, welche die Schönheit des Materials ausstrahlten. Sie gründeten die Arts-and-Crafts-Bewegung, die später den Jugendstil stark beeinflussen sollte.
Von 1868 bis 1870 veröffentlichte Morris seine 4-bändige Gedichtsammlung "The Early Paradise" (irische mythologische Geschichten), die seinen Ruf als erfolgreicher und angesehener Dichter festigten und ihm zwei Nominierungen als Lyrikprofessor in Oxford einbrachten.
Zusammen mit Dante Gabriel Rossetti, Edward Burne-Jones und vier weiteren Künstlern gründete er 1861 die Firma Morris, Marshall, Faulkner & Co, die Möbel, Teppiche und Wandbehänge herstellte. Während einige die Firma später wieder verließen, arbeitete Morris dort sein Leben lang. Noch heute sind die Teppiche und Tapeten im typischen Morris-Design erhältlich und zurzeit wieder sehr populär geworden.
Im Londoner Victoria and Albert Museum kann man im großen Rahmen das Kunsthandwerk von Morris bestaunen, ob Tapeten, Textilien oder Teppiche. Ein Blick auf die Seite lohnt sich!
Auch im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe gibt es einige Exponate von Morris zu sehen, wie zum Beispiel den Dekorationsstoff "Strawberry-Thief". Bei dem "Erdbeerdieb" handelt es sich um zwei Vogelpaare zwischen Blumenranken und Erdbeerpflanzen, wobei eines der beiden Paare der Erdbeerpflanze huldigt und das andere bereits deren Früchte im Schnabel hält. Auch dies ist garantiert allegorisch zu deuten. Überhaupt hatten Blumen und Kräuter in der viktorianischen Epoche eine hohe Symbolkraft. Man musste also höllisch aufpassen, wem man welche Blumen schenkte.
John William Waterhouse

John William Waterhouse gehörte bereits zur nachfolgenden Generation der Präraffaeliten. Er muss dennoch in diesem Zyklus genannt werden, da seine Malerei stark von ihnen inspiriert war - zumindest was die Themen und die Leuchtkraft der Farben anbelangt. Deren übrigen Grundsätze und Lebensart hat er nicht übernommen. Vielmehr orientierte er sich diesbezüglich an den großen Malern seiner Epoche und kreierte daraus seinen eigenen Stil. Auch impressionistische Einflüsse sind bei ihm erkennbar.
Sein berühmtestes Gemälde ist "The Lady of Shalott" zu dem er von Alfred Tennnysons gleichnamigen Gedicht inspiriert wurde. Und wieder einmal liegt hier das Thema der Artus-Sage zu Grunde.
Diese spielt auch in der Nicolae-Saga eine gewisse Rolle. Nicht allein obiges Gemälde von Waterhouse inspiriert meinen Titelhelden in Band 6 "Aus dem Schatten" in seiner künstlerischen Entwicklung. Es sind diese Wesen aus der Anderswelt, die wie selbstverständlich in die unsere eindringen und damit die Grenzen zwischen Realität und Phantastik aufheben. Denn genau das ist der Grundstoff, aus dem ich die Nicolae-Saga gewoben habe.
Nicolaes Malerei
Der Einfluss der Präraffaeliten war noch lange nach deren Gründung Mitte des 19. Jahrhunderts spürbar und hat den Jugendstil um die Jahrhundertwende im großen Maße mitgeprägt. So hat auch mein Titelheld unter dem Einfluss der damals zeitgenössischen Kunst gestanden. Etliche berühmte Namen gehören zu den Londoner Künstlerkreisen, in denen er verkehrt - darunter nicht nur Maler wie Burne-Jones, sondern auch Schriftsteller wie Oscar Wilde und Schauspieler wie Henry Irving.
Eine Zeit lang widmet sich Nicolae ausgiebig der Malerei, um sein seelisches Gleichgewicht nach den turbulenten Vorkommnissen nach seinem Bühnenskandal wiederzuerlangen. Er erkennt selbst, dass seine Mal-Lust geradezu an Besessenheit grenzt. Doch der stete Umgang mit den Künstlern, die sich regelmäßig in seinem Haus einfinden, inspiriert ihn, sich auf unterschiedliche Weise auszudrücken. Dabei gibt er ungewollt mehr von sich preis, als ihm lieb ist.
Dies wird deutlich in einem Brief seiner Schwester an deren Freundin:
London, Februar 1890
Liebe Zoe,
eine neue Dekade ist angebrochen. Die letzte vor dem Jahrhundertwechsel. Es fühlt sich an, als kämen keine weiteren.
Nicolae hat seine Märchenforschungen eingestellt und die Wohnung in Oxford aufgelöst. Er schreibt noch gelegentlich Artikel für Kulturmagazine und übersetzt Märchen vom Rumänischen ins Englische. Die meiste Zeit jedoch ist er mit Malen beschäftigt - meist in Öl, aber auch Kreide- und Kohlezeichnungen sind darunter sowie einige wenige Aquarelle.
Manchmal arbeitet er ganze Nächte hindurch. Die Luft im lichtdurchfluteten Erkerzimmer, das er zum Atelier umgewandelt hat, ist mit dem schweren Geruch von Ölfarben und Terpentin durchzogen. Ich sitze dort gerne, um zu lesen oder einfach nur in den Garten hinauszuschauen. Doch das meiste Mobiliar ist der Staffelei und den Leinwänden gewichen. Eine Zimmerpalme, ein Teetisch und eine Chaiselongue sind als einzige Wohnlichkeit übrig geblieben.
Ab und zu soll ich mich darauf in Szene setzen, sittsam über einen Stickrahmen oder ein Buch gebeugt, zuweilen auch etwas legerer in die Ecke gelehnt, aber mit einer Tasse Tee in der Hand – so viel Anstand muss sein! Ob er mich nackt malen wolle, fragte ich Nicolae neulich. Ich erhielt nur einen tadelnden Blick.
Dieses Privileg ist nämlich Gina vorbehalten. Die verführerischen Posen stehen ihr besser zu Gesicht. Nein, nicht was Du denkst, Zoe! Stets züchtig bekleidet mit einem Morgenmantel aus Seide, der an gewissen Stellen zufällig auseinanderklafft oder von der Schulter rutscht. Nicolae will nichts künstlich Drapiertes, es soll möglichst natürlich wirken, wie zufällig, wie durchs Schlüsselloch geguckt. Darum bekommt Gina einen Spiegel in die Hand gedrückt, damit sie selbstvergessen an einer Locke zupft oder sich vorbeugt, um das heruntergefallene Spitzentüchlein aufzuheben. In dieser für sie recht unbequemen Position, auf halbem Wege quasi, muss sie verharren, bis ihr alles Blut in den Kopf gelaufen ist. Erholen darf sie sich anschließend; halb liegend, mit geröteten Wangen, in einen Brief vertieft – einen Liebesbrief versteht sich! Ich hätte auch gerne einen.
Wie soll ich Dir Nicolaes Malstil beschreiben? Er ist unbeschreiblich und wechselhaft wie das hiesige Wetter. In seinen Landschaftsbildern überwiegt eine impressionistische Leichtigkeit, selbst wenn dichter Nebel über die feuchten Wiesen kriecht oder gleißende Sonnenstrahlen mühsam dunkle Wolkenbänke durchbrechen, die den Garten in ein unwirkliches Licht tauchen. Die Wintersonne, die sich auf dem trüben Wasser des Sees bricht und düstere Schatten auf die erstorbenen Rosenbeete wirft, ist mit nur wenigen Pinselstrichen hingekleckst und enthält die gesamte Schwermut unserer Tage.
Seine Stillleben hingegen sind von außergewöhnlicher Leuchtkraft und Lebendigkeit. Man möchte in den Rahmen hineingreifen, um die Orangen und Trauben daraus hervorzuholen.
Auch die Porträts sind voller Farbenfreude, die Figuren von geradezu ätherischer Leichtigkeit, obwohl von schwerem Brokat und Samt umhüllt, als wären sie in unsere Realität geschlüpfte Geister. Und obgleich Georginas Haar von kastanienfarbener Pracht ist, erscheint es auf Nicolaes Gemälden, im Kontrast zu ihrer fast durchscheinenden Haut, flammend rot, während ihr geheimnisvoller Blick einen in tiefere Sphären lockt. Mit seinem Pinselstrich vermag er ihr all das Kokette und Künstliche zu entreißen und ihr wahres Selbst zu entblößen, wobei er sie für den Betrachter zu einer Mensch gewordenen Göttin erhebt.
Sie verkehren noch miteinander, aber nicht mehr geschlechtlich. Georgina kommt meist zum Lunch und bleibt bis zum Tee. Nicolae braucht sie nicht als Modell, er stellt ihr Porträt auch ohne sie fertig, prägt sich ihren Ausdruck ein und malt ihn anschließend aus dem Gedächtnis. Er hat auch Aktgemälde von ihr, aber die zeigt er mir nicht. Ich habe sie zufällig entdeckt. Es war seltsam, Georgina so zu sehen, wie mein Bruder sie gesehen hat – mit so viel verbotener Weiblichkeit. Dennoch sind die Gemälde keineswegs anstößig, sondern von einer sinnlichen Ästhetik geprägt.
Darüber hinaus fertigt er kleine Aquarelle mit heimatlichen Motiven, mit denen er die übersetzten Märchen illustriert. ...
Auszug aus Band 6 der Nicolae-Saga "Aus dem Schatten"
Vor allem in Band 6 und 7 der Nicolae-Saga bekommt der Leser einen Einblick in die lebhafte Londoner Kunstszene des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Neben der Malerei geht es vor allem auch um Literatur und die Bühnenkunst. 1886 erscheint Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde von R. L. Stevenson, und Bram Stoker veröffentlicht 1897 seinen Dracula.
Mehr dazu wird es demnächst in einem weiteren Blogbeitrag "Literatur in der Nicolae-Saga Teil 3" zu lesen geben.
Je radikaler Industrialisierung, Technisierung und wissenschaftliche Erkenntnisse fortschreiten, desto mehr bilden sich Gegenbewegungen wie die von William Morris. Diverse okkulte Gesellschaften entstehen, deren Mitglied zu sein in den besseren Kreisen als chic galt.
Die Schwarze Romantik erfährt eine Renaissance und damit einhergehend erlebt auch der Schauerroman eine Wiedergeburt. Das Phantastische und Paranormale hat Hochkonjunktur. Die Menschen entwickeln eine Sehnsucht nach dem Magischen und Unerklärlichem, dem Kontakt zum Jenseits (Séancen) und der Anderwelt (Artus-Sage), nach Schönheit (Ästhetizismus) und Natürlichkeit. Dies erklärt vielleicht den dauerhaften Erfolg der Präraffaeliten.
krönender Abschluss: Der Pilger im Garten

Der Wandteppich "Der Pilger im Garten" oder "Das Herz der Rose" ist ein Gemeinschaftkunstwerk von Edward Burne-Jones und William Morris. Die beiden Freunde gehörten zu den wichtigsten Vertretern der Präraffaeliten und der Arts-and-Crafs-Bewegung. Das Thema ist einem alt-französischen Liebesroman entliehen, in dem es um Mythologie und Symbolismus geht.
Ich hatte die große Freude, das Kunstwerk im Hamburger Bucerius Kunstforum zu sehen. Die Leuchtkraft der Farben ist unglaublich!
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Kunst in der Nicolae-Saga Teil 3 - Rumänische Maler des 19. Jahrhunderts
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