MoMo: Ein Märchen-Roman?
MOMO oder die seltsame Geschichte von den Zeitdieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte
Ja, Sie lesen richtig! So lautet der volle Titel von MOMO. Passt nur nicht alles auf den Buchumschlag.
Damit hat Michael Ende in aller Kürze den Inhalt seines Märchenromans zusammengefasst.
Wer kennt sie nicht, die Geschichte von den Grauen Herren, Meister Hora und der Schildkröte Kassiopeia? Von Momos Freunden Beppo Straßenkehrer und Gigi Fremdenführer? Und von Momo selbst, die die selten gewordene Gabe hat, den Menschen zuzuhören und sie dadurch ihr Innerstes nach außen kehren zu lassen?
Das auf sich allein gestellte Waisenmädchen Momo beflügelt nicht nur die Fantasie der Kinder, sondern auch die der Erwachsenen. So manchem gibt sie Rat, ohne dass Momo dazu ihren Mund auftun müsste. Das Mädchen erreicht allein durch ihr Zuhören, dass die Leute sich endlich einmal selbst zuhören und so selbst auf die Lösung ihres Problems kommen.
Meines Erachtens ist "MOMO" alles andere als ein Kinderbuch, auch wenn es hier vorwiegend um Kinder geht. Dafür ist die Thematik viel zu gesellschaftskritisch und philosophisch - und vor allem zu schaurig. Märchenhaft ist einzig das Ende. Denn es geht gut aus. Trotzdem kommt mir die Geschichte um Momo eher wie eine längst Realität gewordene Dystopie vor.
Das Hauptthema dieses Buches ist die ZEIT. Ominöse, wie aus dem Nebel auftauchende Graue Herren stehlen sie den Menschen, indem sie sie dazu verleiten, Zeit zu sparen und effektiver zu arbeiten. Das ganze Leben wird in Sekunden aufgerechnet. ZEIToptimierung, sagen wir heute dazu. Oder schlimmer: SELBSToptimierung.
Was auf der Strecke bleibt, ist das Miteinander, das Sich-umeinander-kümmern, das Füreinander-da-sein.
Ebenso Fantasie und Kreativität. Beides braucht Freiraum, sprich: unausgefüllte Zeit, um überhaupt entstehen zu können.
Aus Sicht der Grauen Herren vertrödeln Kinder wertvolle Zeit bei ihren nutzlosen Spielen auf der Straße. Daher werden "Kinder-Depots" eingerichtet, wo sie verwahrt und zu leistungsfähigen Mitgliedern der Gesellschaft erzogen werden.
Ihre Eltern haben keine Zeit mehr, sich um sie zu kümmern. Sie müssen immer mehr arbeiten - um auch in einem dieser schicken, aber seelenlosen Neubauten zu wohnen, um sich auch das leisten zu können, was der Nachbar hat, um ...
Kommt Ihnen das nicht irgendwie bekannt vor?
"Auch Momos Freunde entgingen dieser Regelung nicht (...) und wurden in verschiedene Kinder-Depots gesteckt. Davon, dass sie sich hier selbst Spiele einfallen lassen durften, war naütrlich keine Rede mehr. Die Spiele wurden ihnen von Aufsichtspersonen vorgeschrieben und es waren nur solche, bei denen sie irgendetwas Nützliches lernten. Etwas anderes verlernten sie freilich dabei und das war: sich zu freuen, sich zu begeistern und zu träumen."
Tja ...
Bei Michael Ende werden die Kinder am Schluss der Geschichte aus den Depots befreit - wie auch die Erwachsenen aus der ihrer auferlegten Arbeitswut nebst Konsumzwang. Deshalb: MÄRCHEN.
Der Roman erschien 1973, wo viele Mütter noch zu Hause waren, um sich um ihre Kinder zu kümmern. Auch ich habe noch mit anderen Kindern aus dem Viertel auf der Straße spielen dürfen. Unsere Fantasie verhalf uns zu manchem Abenteuer.
Später wurde ich zu einem sogenannten Schlüsselkind, was in den 70er Jahren noch die Ausnahme war. Und damit endete meine Kindheit frühzeitig.
Heute werden bereits die Kleinsten der Kleinen wegorganisiert. Ich finde das furchtbar traurig, denn ich weiß, was ihnen entgeht. Oder besser: was man ihnen vorenthält. Und dann wundern wir uns über immer mehr Kinder, die unter psychischen Störungen leiden, Ritalin brauchen oder Schlimmeres.
In unserer Welt hätten Kinder wie Momo längst keine Chance mehr. Dabei sollte jedes Kind ein Recht darauf haben, zu träumen, pädagogisch wertlose Spiele zu spielen und einfach nur nutzlos Zeit zu verplempern. Nur so kann Fantasie und Kreativität überleben, wie wir am Beispiel von Momo sehen.
Fazit: Das Buch sollte Pflichtlektüre sein für alle Eltern, Lehrer, Pädagogen und Erziehungswissenschaftler.
Weitere Werke in meinem Blog um und von Michael Ende:
> Charlotte Roth: "Die ganze Welt ist eine große Geschichte
und wir spielen darin mit" - Romanbiografie über Michael Endes Leben
> Michael Ende: "Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer"