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Literatur in der Nicolae-Saga - Teil 1

Literatur in der Nicolae-Saga

Literatur in der Nicolae-Saga - Bild: Pierre-Auguste Renoir - Die Lesende, 1874

Meine Liebe zur Literatur – vor allem zu den Klassikern des 19. Jahrhunderts – ist zwangsläufig in die Nicolae-Saga mit eingeflossen. Zumal Bücher - mangels der  Flut von heutigen modernen Zerstreuungen - zu jener Zeit ohnehin eine wesentlich größere Rolle spielten. Vor allem im aufstrebenden Bürgertum. Auf vielen Gemälden der Impressionisten sind daher lesende Menschen abgebildet wie oben auf dem 1874 entstandenen Bild von Pierre-Auguste Renoir zu sehen.

 

Die Lektüre meiner Romanfiguren habe ich nie zufällig ausgewählt. Es gibt immer einen unmittelbaren Zusammenhang zu ihrer Lebensrealität oder zu ihren Gefühlswelten.

Nicolaes Bilderbücher

Im ersten Band der Nicolae-Saga steht mein kleiner Titelheld erst kurz vor seinem 5. Geburtstag. Klar, dass daher zunächst die klassischen englischen Kinderbücher Erwähnung finden. Sogar mit Wiegenliedern aus jener Zeit hatte ich mich befasst. Aber sie sind noch in der allerersten Überarbeitung des Manuskripts dem Rotstift zum Opfer gefallen.

Den Anfang machen darum Bilderbücher für die Kleinsten:

"Auf einem Regal über der Stirnseite des Bettes saß Mr. Tom, der Bär. Seine Aufgabe war es, am Tage über die Figuren in den neben ihm liegenden Bilderbüchern zu wachen, damit diese ihre Seiten nicht heimlich verließen.

In dem Bilderbuch, das er von seiner Tante bekommen hatte, konnten die Ritter, wenn man an einer Papierzunge am Bilderbuchrand zog, ihre Schwerter heben und senken. Auch das Gitter des Burgtores ließ sich hochschieben und die Zugbrücke herunterlassen. Die Ritter führten ein ziemlich bewegtes Leben zwischen den dicken Papierseiten.

 

In demjenigen von Granny Bridget hingegen lebten Feen mit zarten Flügeln, schneeweiße Einhörner mit gedrehten goldenen Hörnern, Zwerge, die in Pilzen wohnten und Riesen, die in Bergen hausten. So manches Zauberwesen schwebte aufs zierlichste zwischen den Seiten umher.

Aber Mr. Tom passte gut darauf auf, dass keines von ihnen entfleuchte und sich plötzlich inmitten eines ritterlichen Schwertkampfes wiederfand. Alle sollten hübsch in ihrer eigenen Welt bleiben.

 

Beide Bilderbücher sahen schon recht abgegriffen aus, denn er schaute sie sich jeden Abend vor dem Einschlafen an. Oftmals kam er nicht über die erste Seite hinaus, weil ihm zu jedem Bild immer wieder eine neue Geschichte einfiel, bis ihm vor Müdigkeit die Augen zufielen. Manchmal setzten sich die Geschichten in seinen Träumen fort."

(Aus Band 1: Nicolae-Zwischen den Welten)

Wie man sieht, haben die ersten Bilderbücher die Fantasie des kleinen Nicolae mächtig angeregt.

Auch ich hatte als Kind eines dieser Aufklapp-Bilderbücher - oder "Pop-ups", wie sie heute heißen - und war begeistert!

Und waren Wichtelgeschichten sowie Märchen und Sagen nicht im Prinzip die ersten Fantasy-Bücher?

Märchen - ein Kulturgut

Nicolae liebt Märchen. Besonders diejenigen der Brüder Grimm, die seine Mutter ihm ab und zu vorliest, haben es ihm angetan. Denn dort siegt am Ende das Gute. Das befriedigt seinen früh ausgebildeten Gerechtigkeitssinn.

Während die keineswegs immer gut ausgehenden irischen Märchen, die seine aus Galway stammende Granny Bridget ihm erzählt, ihn zuweilen ängstigen. Sie handeln oftmals von der keltischen Anderswelt und ihren unheimlichen Wesen.

 

Märchen aus anderen Ländern handeln zwar von ähnlichen Figurentypen, aber die Erzählweise ist eine völlig andere. Bei meinem Vergleich zwischen deutschen, irischen und rumänischen Märchen konnte ich deutliche Unterschiede erkennen und landestypische Narrative entdecken.

Darüber hinaus habe ich in den einst mündlich überlieferten Erzählungen etwas für mich ganz Kostbares gefunden: ein Hauch von Volksseele! Diese hat mir viel über die keltische und rumänische Kultur mitgeteilt.  Ein ungeheuer wichtiger Aspekt, um mich in die Denk- und Emotionswelt dieser beiden Länder einfühlen zu können.

Der Unterschied zwischen deutschen, irischen und rumänischen Märchen

Aus dem: Violet Fairy Book von Andrew Lang (1906)

Die deutschen Märchenfiguren sind fein säuberlich in Charakterschubladen einsortiert. Die Bewertung fällt früh und radikal aus: schwarz oder weiß, gut oder böse. Sexualität existiert nicht.

Der wichtigste Bestandteil aber ist die moralische Botschaft.

 

Wohingegen die irischen Märchen gnadenlos realistisch die Lebensweise des einfachen Volkes schildern. (Das gilt übrigens auch für die rumänischen Märchen.) Die Fairy-Tales - Feengeschichten - sind alles andere als harmlos. Die Wesen aus der Anderswelt kommen eher gruselig daher. Nicht selten verschleppen sie ein armes Menschenkind in ihr unheimliches Reich. Trotzdem wird hier nicht, wie in deutschen Märchen üblich, bewertet, sondern lediglich geschildert.

 

Der Wolf und die sieben Geißlein, Zeichnung von Leutemann/Offterdinger (Ende 19. Jh.)

In rumänischen Märchen habe ich statt deutsche schwarz-weiß Malerei ziemlich viele Grautöne in unterschiedlichen Schattierungen vorgefunden. Dort ist unser „böser Wolf“ aus dem Märchen Die sieben Geißlein für die Geißenfamilie kein Unbekannter, sondern der „Herr Gevatter“, also der Patenonkel eines der Geißlein. Er wirft am Ende der Geißenmutter vor, ihre Kleinen allein im Haus gelassen zu haben, sodass sie eine gewisse Mitschuld an dem grausigen Vorfall trifft.

Man sieht: Die Angelegenheit ist wesentlich komplexer und daher realistischer.

Die Brüder Grimm waren eben Märchensammler und keine Märchenerzähler, und so haben sie diesem Märchen lediglich ein deutsches Mäntelchen umgehängt.

Sagen und Legenden

Sagen und Legenden spielen in jeder Volksgruppe eine große Rolle.  Im Gegensatz zu Märchen, sind Sagen und Legenden stark an Plätze und Zeiten gebunden. Auch sie sind mündlich überlieferte Erzählungen des Volkes. So leben die Helden aus alten Tagen in ihren Legenden weiter.

Wie beispielsweise Robin Hood, der mittelalterlichen Balladen entstammt und für Gerechtigkeit der armen Leute kämpft.

Nicolaes Held: Robin Hood

Die Sage um Robin Hood bietet viel abenteuerlichen Stoff und hatte im 19. Jahrhundert großen Einfluss auf die damalige Jugendliteratur. So führt auch der alte Seebär Grandpa Patty seinen Urenkel Nicolae in die Welt von Robin Hood ein.

Robin Hood: Robin shoots with Sir Guy, Zeichnung von Louis Rhead (1912)

"Sein schönstes Spielzeug thronte an der Wandseite längs des Bettes. Es war ein von Grandpa Patty gefertigter Bogen mit dazugehörigem Köcher und Pfeilen.

Nicolae wurde es nicht müde, damit in Robin Hoods Schuhe zu schlüpfen und im Wäldchen für Gerechtigkeit zu kämpfen. Gewiss würde Grandpa Patty ihm wieder ein neues Abenteuer von diesem Helden erzählen."

(Aus Band 1 der Nicolae Saga "Zwischen den Welten.)

 

Dieser Held seiner Kindheit hat einen nicht unerheblichen Einfluss auf Nicolaes Sicht auf die Welt.

Später wird er auf der entgegengesetzten Seite Europas einem ganz ähnlichen Helden begegnen. In Rumänien rühmt sich nämlich einer namens Dobus ganz ähnlicher Taten: ein Räuberheld, der es von den Reichen nimmt, um es den Armen zu geben.

 

Das Urwerk keltischer Mythen: Die Artus-Sage

Bevor Nicolae mit seiner Mutter auf Reisen auf dem Kontinent geht, bekommt er ein ganz besonderes Buch von seinen Urgroßeltern geschenkt: die Artus-Sage.

"The Boy's King Arthur" von Sir Thomas Malory, Cover von N.C. Wyeth (1922)

"Da Du nun bald sehr viel Zeit auf der Eisenbahn und in Kutschen verbringen wirst, schreibt Granny Bridget in ihrem Brief an Nicolae, könnte Dir manchmal die Zeit etwas lang werden. Darum haben wir Dir ein Buch beigelegt, das jeder englische Junge gelesen haben sollte. Es ist die Geschichte des berühmten König Artus und seiner Tafelrunde. Sie ist der Schlüssel zu vielen Dingen. Darum lese sie sorgsam, denn sie gibt Dir Antwort auf so manche noch ungestellte Frage." (Band 1: Nicolae-Zwischen den Welten)

 

Nicolae tut sich schwer mit seiner Lektüre über den legendären König Artus. Trotzdem bekommt er eine Ahnung von der ungeheuren Bedeutung dieses Werkes und wird immer wieder mit Bereichen daraus konfrontiert. Später, als Student in Oxford, wird er sogar an die mittelalterlichen Originalschriften gelangen. (Band 6: Nicolae-Aus dem Schatten)

 

Zunächst aber zieht ihn - in der Waffenkammer eines mittelalterlichen Schlosses im Fürstentum Rumänien - ein ganz besonderes Schwert in seinen Bann:

Sein vergoldeter Knauf war mit Rubinen besetzt, der Griff und Klingenansatz aufs feinste ziseliert. Ein unwiderstehliches Verlangen, das Schwert zu berühren, überkam ihn. As er die freie Hand nach dem Schwert ausstrecken wollte, ließ der erhöhte Händedruck des Grafen ihn innehalten.

»Tu das lieber nicht, mein junger Freund!«, hörte er diesen warnen. »Du könntest mehr spüren, als du ertragen kannst.«

Erschrocken ließ Nicolae seine Hand wieder sinken.

»Es ist ein ganz besonderes Schwert«, erklärte der Graf. »Keines von den anderen hat so viele Feinde getötet wie dieses hier.«

Nicolae betrachtete es ehrfürchtig.

»Es birgt besondere Kräfte«, sprach der Graf weiter, »die es allerdings nur dann freigibt, wenn der Benutzer dieses Schwertes seinem ehemaligen Besitzer an Kampfgeist und Edelmut ebenbürtig ist. Anderenfalls treibt es ihn in den Wahnsinn, denn es vermittelt gnadenlos die grausamen Schlachten, die es einst geschlagen hat. Lassen wir es also lieber ruhen.«

»Dann ist es also ein magisches Schwert, so wie Excalibur

»So ähnlich«, antwortete der Graf und betrachtete Nicolae aufmerksam. Dann huschte ein leises Lächeln über sein Gesicht. »Ja, ja, ihr Engländer liebt eure Artus-Sage, nicht wahr?«

»Granny Bridget hat sie mir als Reiselektüre mitgegeben, aber ich bin noch nicht weit darin gekommen. Sie meint, die Artus-Sage sei ein Schlüssel, aber das verstehe ich nicht. Sie sagt auch, dass ich darin Antworten finde, aber auf welche Fragen, weiß ich nicht. Vielleicht habe ich nicht sorgfältig genug gelesen.«

»Vielleicht bist du ganz einfach noch zu jung, um Antworten darin zu finden. Später einmal wird sie dir mehr mitteilen.« 

(Band 1: Nicolae-Zwischen den Welten)

 

Unnötig zu sagen, dass sich Nicolae auf die Suche nach Antworten in diesem geheimnisvollen Werk macht, nicht ahnend, dass er selbst ein Teil der Antwort ist.

Doch das erfahren meine Leser erst sehr viel später in Band 5: Nicolae-Unter dem Schwert.

Fantastisches und Wundersames

Im knallharten Realismus der viktorianischen Epoche war das Bedürfnis nach Fantastischem und Wundersamem anscheinend besonders groß. So entstehen mehrere okkulte Gesellschaften als Gegensatz zur wachsenden Wissenschaftsgläubigkeit. Magische Shows und Phantasmagorien erfreuen sich großer Beliebtheit. Und auch optische Täuschungen und Trugbilder bei Spielzeug finden großes Gefallen bei Jung und Alt.

 

In der Kunstwelt sorgen die Werke der englischen Präraffaeliten für Ausgleich. Siehe dazu auch das Verzeichnis historischer Persönlichkeiten in der Nicolae-Saga. Ihre Lieblingsmotive sind Wesen aus anderen Sphären, die versehentlich in unsere Welt geraten sind, sowie Motive aus den klassischen Sagen. Die Ästhetik steht im Mittelpunkt, denn die Wirklichkeit der rußenden Fabrikschlote ist hässlich genug. 

 

Aber auch in der Literatur fließt Fantastisches mit ein. So entsteht ein starker Kontrast zur erlebten Realität.

Alice auf der Teeparty mit Märzhasen und verrückten Hutmacher, Zeichnung von John Tenniel, 1865

Der heutige Kinderbuchklassiker Alice im Wunderland von Lewis Carroll zählt daher nicht von ungefähr zu Nicolaes Lieblingsbüchern. Er enthält satirische Anspielungen auf die viktorianische Gesellschaft und steigert deren Lebenswirklichkeit ins Absurde. Vor allem aber regt er tüchtig Nicolaes Fantasie an:

 

»Kannst du mir auch einen Trunk bereiten, der mich ganz klein macht, Granny Bridget?«, unterbrach er sie mit hoffnungsvoller Miene. »Stell dir vor, ich wäre nur so groß wie die Raupe, dann würde ich mich in das Gefieder des Raben setzen, der in der alten Eiche wohnt, und mit ihm durch die Zeiten fliegen. Die tollsten Abenteuer würden wir erleben und Dinge sehen, die anderen verborgen blieben …« (Aus Band 1: Nicolae-Zwischen den Welten)

 

In späteren Jahren werden es die utopischen Abenteuerromane von Jules Verne sein, die Nicolae faszinieren.

Doch dazu mehr im nächsten Blogbeitrag aus der Reihe "Literatur in der Nicolae-Saga".


Und welche Märchen, Sagen oder Geschichten haben Sie als Kind fasziniert?

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